Daß dieser Brief aber auch mitten in die Siegerstimmung hineinplatzen mußte! Daß mich dieser Schlag mitten in meinen größten Hoffnungen traf! Fassungslos, wie ich war, sagte ich verschiedenes, an das ich mich heute trotz meinem guten Gedächtnis nur schwer erinnern kann: daß ich ein verlorener Mann sei, meine Karriere zerstört, meine Zukunft ehrlos, meine große Erfindung eine Kleinigkeit gegenüber dem, was auf meiner geheimen Karte in allen Polizeiabteilungen des ganzen Weltstaates stehen würde, und so weiter. Und als Linda mich zu trösten versuchte, glaubte ich zuerst wirklich, daß sie es nur aus Falschheit tat und daß sie nur darüber nachdachte, wie sie am besten das sinkende Schiff verlassen könnte.

»Bald werden alle wissen, was für staatsgefährdende Ansprachen ich halte«, sagte ich bitter. »Verlange nur die Scheidung, tu es, kümmere dich nicht darum, daß die Kinder noch klein sind. Für sie ist es ja auf alle Fälle besser, vaterlos zu sein, als bei einem staatsgefährlichen Individuum, wie ich es bin, zu wohnen …«

»Du übertreibst«, sagte Linda ruhig (ich erinnere mich noch genau an ihre Worte. Es war nicht die Ruhe, nicht die Mütterlichkeit in ihrer Stimme, die mich von ihrer Aufrichtigkeit überzeugte. Es war die schwere, beinahe gleichgültige Müdigkeit.). »Du übertreibst. Wie viele hervorragende Mitsoldaten, glaubst du, haben nicht einmal einen Verweis erhalten und sich nachher reingewaschen! Erinnerst du dich nicht an all die, welche an Freitagen zwischen zwanzig und einundzwanzig Uhr ihre Entschuldigungen am Radio vorbringen! Du mußt doch verstehen, daß es nicht Fehlerlosigkeit ist, die einen guten Mitsoldaten ausmacht, am allerwenigsten Fehlerlosigkeit in solchen Fragen, in denen die staatliche Ethik noch in Bildung begriffen ist! Vor allem ist es die Fähigkeit, seinen eigenen Standpunkt aufzugeben und sich den richtigen anzueignen.«

Endlich beruhigte ich mich und begann zu verstehen, daß sie recht hatte. In meinem aufgewühlten Zustand versprach ich sowohl ihr wie mir selbst, so bald wie möglich von der Stunde der Entschuldigungen im Radio Gebrauch zu machen. Ich fing sogar gleich an, meine bevorstehende Rede zu entwerfen.

»Jetzt übertreibst du wieder«, sagte Linda, die über meine Schulter gebeugt stand und las, was ich schrieb. »Man darf sich weder sofort geschlagen geben noch vorschnell einlenken. Glaube mir, Leo, so etwas darf man nicht schreiben, wenn man so aufgeregt ist, wie du es jetzt bist …«

Sie hatte recht, und ich war dankbar, daß sie da war. Klug war sie, klug und stark. Aber warum klang ihre Stimme so müde?

»Du bist doch wohl nicht krank, Linda?« fragte ich ängstlich.

»Warum sollte ich krank sein? Letzte Woche sind wir ärztlich untersucht worden. Mir ist etwas Freiluftbestrahlung verordnet worden. Sonst bin ich kerngesund.«

Ich stand auf und umarmte sie.

»Du darfst nicht sterben«, sagte ich, »ich brauche dich. Du mußt bei mir bleiben!«

Aber gleichzeitig mit meiner Angst vor dem Alleinsein tauchte ein kleiner Hoffnungsschimmer in mir auf: Ja, warum nicht – warum konnte sie nicht sterben – vielleicht wäre das die Lösung des Problems? Aber an diesen Ausweg wollte ich nicht denken. Und so drückte ich sie in einer Art ohnmächtiger Raserei fest an mich.

Wir gingen schlafen und löschten das Licht. Meine monatliche Ration Schlafmittel war seit langem aufgebraucht. Selbst wenn ihre Wärme und ihr zarter Duft, der an köstlichen Tee erinnerte, unter unserer gemeinsamen Decke nicht zu mir gedrungen wären, hätte ich mich an diesem Abend nach ihr gesehnt. Die Jahre hatten mich verändert. In meiner Jugend waren meine Sinne eine Art notwendiges Übel gewesen, ein fordernder Begleiter, der befriedigt werden mußte, damit ich ihn los wurde und mich anderem zuwenden konnte. Sie waren auch ein stolzes Werkzeug der Lust, aber ernstlich betrachtete ich sie nicht als einen Teil meiner selbst. Jetzt war es nicht mehr so. Duft, Zartheit und Lust waren nicht mehr das einzige, was ich haben wollte. Das Ziel meiner aufflammenden Sinne war viel schwerer zu erreichen. Es war die Linda, welche ich in gewissen kurzen Minuten hinter den unbeweglichen weitgeöffneten Augen, hinter dem gespannten roten Mund wahrnahm, so wie sie mir heute abend in ihrem müden Tonfall, in ihren klugen, ruhigen Ratschlägen erschienen war. Und während das Blut schneller durch meine Adern zu rinnen begann, drehte ich mich auf die andere Seite und erstickte einen Seufzer. Ich sagte mir, daß das, was ich mir unter dem Zusammenleben von Mann und Frau vorstellte, Aberglauben und nichts anderes sei, genau derselbe Aberglaube, mit dem die Wilden des Altertums die Herzen ihrer mutigen Feinde fraßen, um ihre eigene Kühnheit zu erhöhen. Es gab keine Magie, die mir den Schlüssel und das Besitzerrecht zu dem Lustgarten, den Linda mir vorenthielt, verschaffen konnte.