Die gemeinsame offizielle Sprache innerhalb des riesigen Weltstaates hatte sich leider noch nicht überall als allgemeine Umgangssprache durchsetzen können. An vielen Orten waren noch Volksidiome lebendig, die sich himmelweit voneinander unterschieden. Ihm selbst hatte jemand im Vertrauen erzählt, daß gerade in einer der Schuhstädte eine sehr schwere Sprache mit ganz anderen Stammformen und Deklinationen als die hier geläufige gesprochen würde. Man konnte zwar solchen Gerüchteverbreitern nie glauben, und die betreffende Person war vielleicht nie aus der Chemiestadt hinausgekommen!
Einen Augenblick lang hatte ich den Eindruck, daß das Benehmen des kleinen Mannes aus einer Art Rachebegierde hervorgerufen sein mußte, aber bald gab ich den Gedanken auf. Aus den höflichen und leicht hingeworfenen Antworten der Frau ging hervor, daß sie erst kürzlich, vielleicht erst heute abend bekannt geworden waren. Allmählich ahnte ich, wie alles zusammenhing: Der Mann hatte zu seiner Handlungsweise nicht die geringste Ursache, seine ganze Unbarmherzigkeit wurde ihm einzig und allein aus dem Interesse am Wohl des Staates diktiert. Er hatte kein anderes Ziel im Auge als die privaten und asozialen Gefühle dieser Frau vor die Öffentlichkeit zu bringen, sie zum Weinen oder zu einer heftigen Antwort zu treiben und sie somit an den Schandpfahl zu stellen, damit er später auf sie zeigen und sagen könnte: Seht, was wir unter uns dulden müssen! Von diesem Gesichtspunkt aus wurde das Streben des Mannes nicht nur verständlich, sondern es verdiente sogar Achtung, und der Kampf zwischen ihm und der Angegriffenen erhielt einen neuen, prinzipiellen Inhalt. Ich beobachtete ihn aufmerksam, und wenn meine Sympathien auf ihrer Seite blieben, beruhte das nicht mehr auf weichlichem Mitgefühl, sondern auf etwas, dessen ich mich vor niemandem zu schämen brauchte: es war die Bewunderung vor der fast männlichen Überlegenheit, welche sie mit der Abwehr seiner Vorstöße bewies. Kein Zucken in ihrem Gesicht verdrängte das höfliche Lächeln, kein Erzittern ihrer Stimme beeinträchtigte den kühlen, leichten Ton, wenn sie seine geschickten Angriffe mit einem Trostgrund nach dem andern erwiderte. Der Jugend falle es ja leicht zu lernen, ein nördliches Klima sei unvergleichlich gesünder als ein südliches, im Weltstaat brauche sich kein Mitsoldat einsam zu fühlen, und warum er den Abschied beklage? Bei einer Versetzung sei ja nichts wünschenswerter als das Vergessen seiner Angehörigen.
Ich war direkt enttäuscht, als der geistreiche Streit von einem groben, rothaarigen Mann, der in der Nähe stand, abgebrochen wurde:
»Was ist denn das für eine Gefühlsduselei! Sie da, Mitsoldat, wie Sie auch heißen mögen, wie können Sie an einem Tag wie heute die Maßnahmen des Staates so schwarz ausmalen! Und dann noch vor einer der Mütter! Wenn irgendwo, dann ist wohl hier Freude und nicht Grämen und Seufzen am Platz.«
Gerade in diesem Augenblick sollten die Ansprachen wieder beginnen, als mir der unglückselige Gedanke kam, dem kleinen Mann noch einen Hieb zu versetzen. Meine Dienstzeit für diesen Abend war nämlich noch nicht ganz abgelaufen. Ich war einer der offiziellen Redner. Und so kam es, daß meine sorgfältig ausgearbeitete Ansprache einen schwerwiegenden, improvisierten Schluß erhielt:
»Und, Mitsoldaten, eure Heldentaten werden nicht geringer, weil sie manchmal von Schmerz begleitet sind. Schmerz verspürt der Krieger durch seine Wunden, Schmerz empfindet die Witwe des gefallenen Soldaten, sogar wenn die Freude, dem Staate zu dienen, diesen Schmerz mannigfach aufwiegt. Schmerz muß wohl auch bei denjenigen anerkannt werden, die im Rahmen des Arbeitslebens, in den meisten Fällen für immer, voneinander scheiden. Und es ist unserer Huldigung wert, wenn Mutter und Tochter, Kamerad und Kameradin mit Freude in den Augen und Hochrufen auf den Lippen voneinander Abschied nehmen. Aber unsere Bewunderung ist wohl nicht geringer, wenn hinter Freude und Hochrufen Trauer liegt, beherrschte und unterdrückte Trauer. Vielleicht ist dies sogar noch mehr unserer Bewunderung wert, weil es den Wert des Opfers für den Staat steigert.« Angefeuert, wie die Menge schon war, brach sie sofort in einen Beifallssturm aus. Aber ich sah, daß hier und dort unter den Applaudierenden auch solche saßen, die trotzig ihre Hände stillhielten. Tausend klatschten vielleicht, und zwei verhalten sich ruhig – und es sind diese zwei, die noch wichtiger als die tausend sind; natürlich, da ja die beiden Denunzianten sein können, während nicht einer der tausend einen Finger erheben würde, um den Umjubelten zu verteidigen, wenn er einmal angezeigt worden ist – und wie sollten sie es übrigens auch tun können? Man kann sich also leicht vorstellen, daß es nicht angenehm war, ergriffen dort oben zu stehen und die ganze Zeit die Augen des kleinen, häßlichen Mannes wie Pfeile auf sich gerichtet zu fühlen. Wie zufällig warf ich rasch einen Blick in seine Richtung: natürlich klatschte er nicht.
Was ich jetzt in der Hand hielt, war das Resultat jenes Abends. Wer mich angezeigt hatte, war nicht leicht zu sagen, es brauchte ja nicht gerade der Kleine gewesen zu sein. Immerhin – denunziert hatte man mich. Auf dem Papier stand:
»Mitsoldat Leo Kall, Chemiestadt Nr. 4. – Das Siebente Büro des Propagandaministeriums hat Ihre Ansprache anläßlich des Abschiedsfestes für einberufene Arbeitskräfte im Jugendlager vom 19. April dieses Jahres geprüft und hat beschlossen, Ihnen folgendes mitzuteilen:
Da ein begeisterter Kämpfer erfolgreicher ist als ein zweifelnder, muß einem freudigen Mitsoldaten, der weder vor sich selbst noch vor andern zugibt, daß er etwas opfert, größerer Wert zuerkannt werden als einem niedergeschlagenen, den seine sogenannten Opfer bedrücken, sogar wenn er seine Niedergeschlagenheit verbirgt. Folglich haben wir keinen Grund, Mitsoldaten, welche Zersplitterung, Mißmut und persönliche Sentimentalität unter einer Maske von Freude verbergen, zu loben, sondern nur diejenigen, die vorbehaltlos begeistert sind und dabei nichts zu verbergen haben. Die Überführung der Erstgenannten ist auf alle Fälle eine rühmliche Handlung zum Wohle des Staates.
Wir erwarten von Ihnen, daß Sie schnellstens Ihre Entschuldigung vor derselben Versammlung, die Sie damals anhörte, vorbringen, soweit es möglich ist, die damals Anwesenden wiederzufinden. Andernfalls muß diese Angelegenheit Über den Lokalsender in Ordnung gebracht werden.
Siebentes Büro des Propagandaministeriums.«
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Meine Reaktion war so heftig, daß ich mich nachher vor Linda schämte.
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