Etwas Ähnliches wollte ich nicht riskieren. Übrigens wußte ich, daß laut der Ordnungsvorschriften jeder streng auf seinem Recht bestehen sollte, frische Versuchspersonen zu erhalten: Die Gewohnheit, unaufhörlich dieselben zu schicken, ließ eine Art Günstlingssystem aufkommen, so daß tüchtige und willige Versuchsmitsoldaten nicht lange die Gelegenheit hatten, ihren Mut zu beweisen und sich ein kleines Extraeinkommen zu sichern. Die Arbeit im Freiwilligen Opferdienst war gewiß ehrenhafter als manche andere, und, streng genommen, sollte diese Ehre allein schon als Belohnung genügen; das Gehalt war auf alle Fälle mit Rücksicht auf die vielen Schadenersatzprämien, die diese Arbeit mit sich brachte, niedrig angesetzt.
Der Mann richtete sich auf und bat im Namen seiner Abteilung um Verzeihung. Sie hätten wirklich keinen andern zur Verfügung gehabt. Gerade jetzt werde fieberhaft im Kriegslaboratorium gearbeitet, und der Freiwillige Opferdienst sei Tag und Nacht bis zum letzten Mann beschäftigt. Nr. 135 selbst, bis auf einen Kriegsgasschaden mit Komplikationen an der linken Hand, gehe es ganz ausgezeichnet. Zur eigenen Entschuldigung wollte er sagen, daß dieser eigentlich schon lange hätte behoben sein sollen – nicht einmal der Chemiker, welcher ihn verursacht hatte, konnte eine Erklärung dafür finden. Er betrachtete sich auf alle Fälle als gesund und hoffte, daß der kleine Gasschaden nicht stören werde.
Eigentlich störte er ja gar nicht, und so beruhigte ich mich. »Ihre Hände brauchen wir nicht, sondern Ihr Nervensystem«, sagte ich, »und ich kann Ihnen schon im voraus sagen, daß das Experiment weder schmerzhaft sein wird noch irgendwelche Schäden – nicht einmal vorübergehende – nach sich ziehen wird!«
Nr. 135 richtete sich noch mehr auf, soweit dies überhaupt noch möglich war. Als er antwortete, glich seine Stimme beinahe einer Fanfare:
»Ich bedaure, daß der Staat noch keine größeren Opfer von mir verlangt hat. Ich bin zu allem bereit.«
»Natürlich, daran zweifle ich nicht«, antwortete ich ernst. Ich war von seiner Aufrichtigkeit überzeugt. Die einzige Einwendung, die ich machen konnte, war, daß er seinen Heldenmut etwas zu stark betonte. Auch ein Wissenschaftler in seinem Laboratorium konnte mutig sein, obwohl er noch nicht die Gelegenheit gehabt haben mochte, es zu beweisen, dachte ich. Übrigens war es noch nicht zu spät: Was er über die fieberhafte Arbeit im Kriegslaboratorium gesagt hatte, deutete darauf hin, daß ein neuer Krieg im Anzug war. Ein anderes Zeichen, das ich beobachtet hatte, aber worüber ich nicht sprechen wollte, um nicht als Pessimist und Streitsüchtiger angesehen zu werden, war, daß die Verpflegung während der letzten Monate durchgehend schlechter geworden war.
Ich setzte den Mann in einen bequemen Stuhl, der für meine Experimente ins Zimmer gebracht worden war, krempelte seinen Ärmel hoch, wusch seinen Oberarm und führte die kleine Spritze mit der blaßgrünen Flüssigkeit ein. Im selben Moment, als Nr. 135 den Stich der Spritze fühlte, spannte sich sein Gesicht, so daß es fast schön wurde. Ich mußte zugeben, daß ich beinahe glaubte, einen Helden vor mir auf dem Stuhl zu sehen. Gleichzeitig wurde er etwas bleicher, was kaum von der blaßgrünen Flüssigkeit, deren Wirkung unmöglich so schnell eintreten konnte, herrührte.
»Wie fühlen Sie sich?« fragte ich aufmunternd, während der Inhalt in der Spritze abnahm. Aus den Ordnungsvorschriften wußte ich ja, daß man die Versuchspersonen selbst so viel wie möglich fragen sollte. Das gab ihnen ein Gefühl von Gleichgestelltsein, und sie vergaßen darüber etwas ihre Schmerzen.
»Danke – wie gewöhnlich!« antwortete Nr. 135, aber er sprach auffallend langsam, als wolle er das Zittern seiner Lippen verbergen.
Während er sitzen blieb, um die Reaktionen abzuwarten, vertieften wir uns in seine Karte, die er auf den Tisch gelegt hatte. Geburtsjahr, Geschlecht, Rassentyp, Körpertyp, Blutstyp und so weiter, Eigentümlichkeiten in der Familie, überstandene Krankheiten (natürlich eine ganze Reihe, so gut wie alle durch Experimente zugezogen). Das Notwendige trug ich in meine eigene, neue und sorgfältig ausgearbeitete Kartothek ein. Einzig und allein sein Geburtsjahr verwunderte mich, aber es mußte wohl stimmen, und ich erinnerte mich, daß ich schon während meiner Assistentenzeit gehört und selbst beobachtet hatte, daß die Versuchspersonen im Freiwilligen Opferdienst in der Regel zehn Jahre älter aussahen, als sie in Wirklichkeit waren. Nachdem ich meine Eintragungen beendet hatte, wandte ich mich wieder Nr. 135 zu, die auf dem Stuhl unruhig wurde.
»Na?«
Der Mann lachte kindlich und unbeholfen.
»Mir geht es ganz gut.
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