Die ersten Jahre dachte ich: Wir haben etwas anderes und mehr als gewöhnliche Sterbliche erleben dürfen, und jetzt müssen wir dafür bezahlen. Wir können es auch nach all dem, was wir schauen durften. Aber wir können es in der Tat nicht. Ich kann nicht. Ich kann die Erinnerung nicht mehr festhalten. Sie entgleitet mir, mehr und mehr. Früher blitzte sie manchmal in mir auf, wenn ich gar nicht nach ihr suchte. Aber jedesmal, wenn ich suche – und ich muß es ja tun, um den Sinn meines Lebens wiederzufinden – merke ich, daß sie nicht mehr kommen will; sie ist mir entglitten. Ich glaube, ich habe sie verbraucht, indem ich zuviel nach ihr gesucht habe. Manchmal liege ich wach und grüble darüber nach, wie alles geworden wäre, wenn mein Leben wie das der anderen verlaufen wäre. Ob ich dann vielleicht noch einmal einen ebenso großen Augenblick erlebt hätte – oder ob etwas gleich Großes trotzdem über dem Leben geschwebt und ihm einen Sinn gegeben hätte – ich meine, ob dann vielleicht nicht alles so unwiederbringlich vorbei gewesen wäre. Man braucht jetzt, verstehen Sie, nicht nur einen entschwundenen Augenblick, von dem man den Rest seines Lebens zehren muß. Man schafft es nicht mehr, obwohl man einmal dabei gewesen war … Aber man schämt sich. Man schämt sich, den einzigen Augenblick im Leben, der etwas wert gewesen war, zu verraten. Verraten. Warum verrät man? Alles, was ich verlange, ist ja nur ein normales Leben, um den Sinn wiederzufinden. Ich habe mir zuviel vorgenommen. Ich schaffe es nicht. Morgen gehe ich hin, mich abzumelden.« Eine Art Erschlaffung trat ein. Noch einmal brach er die Stille: »Glauben Sie, daß man einen solchen Augenblick noch einmal erlebt – wenn man stirbt? Ich habe viel darüber nachgedacht. Ich würde gern sterben. Wenn einem das Leben nichts anderes mehr geben kann, dann ist Sterben noch das Letzte. Wenn man sagt: Ich schaffe es nicht mehr, dann meint man: ich kann nicht mehr weiterleben. Man meint nicht: Ich kann nicht sterben – denn das kann man. Sterben kann man immer, denn dabei braucht man sich nicht zu verstellen …«

Er schwieg und saß still an die Rückenlehne gestützt. Eine grünliche Blässe breitete sich langsam über sein Gesicht. Er schluckte. Sein Körper zuckte leicht. Die Hände glitten tastend über die Armstütze hinaus und der Mann schien zu erwachen, voller Unruhe und Übelkeit. Das war übrigens nicht verwunderlich.