Er hatte ja die doppelte Dosis bekommen. In einem Glas Wasser reichte ich ihm ein paar Tropfen zur Beruhigung.

»Es wird ihm gleich besser gehen«, sagte ich. »Im Augenblick, da die Wirkung nachläßt, verspürt er Übelkeit. Nachher ist es vorbei. In gewisser Hinsicht steht ihm jedenfalls die unangenehmste Arbeit noch bevor: sich in das Furcht- und Schamgefühl wieder hineinfinden. Sehen Sie, mein Chef! Ich glaube, es würde sich lohnen, ihn zu beobachten.«

Eigentlich lagen Rissens Augen auf Nr. 135 mit einem Ausdruck, als sei er es und nicht die Versuchsperson, die sich schämte. Der Mann vor uns bot wirklich keinen ermunternden Anblick. In den Adern an den Schläfen klopfte es, und die Muskeln um die Mundwinkel zitterten in unterdrücktem Entsetzen, das bedeutend schlimmer war als jenes, welches er bei seinem Eintreten verborgen hatte. Die Augen hielt er krampfhaft geschlossen, als hoffte er, daß er damit die allzu klare Erinnerung in einen bösen Traum verwandeln könnte.

»Erinnert er sich an alles, was geschehen ist?« fragte Rissen leise.

»An alles, fürchte ich. Ich weiß übrigens nicht, ob man dies als einen Vor- oder Nachteil betrachten soll.«

Mit äußerstem Unwillen entschloß sich die Versuchsperson endlich, die Augen so weit zu öffnen, um sich vorwärts tasten zu können. Gebeugt und unsicher machte er ein paar Schritte gegen die Tür, ohne es zu wagen, einem von uns ins Gesicht zu blicken.

»Besten Dank für den Dienst«, sagte ich und setzte mich an den Tisch. (Die Sitte erforderte, daß der Angesprochene in diesem Falle antwortete: »Ich habe nur meine Pflicht getan«, aber nicht einmal ein solcher Formalist, wie ich damals war, hatte die Stirn, allzu streng auf Umgangsformen zu halten, wenn es sich um Versuchspersonen handelte, die gerade ein Experiment überstanden hatten.) »Ich fülle die Karte am besten sofort aus. Dann können Sie die Entschädigung an der Kasse holen, wann Sie wollen. Ich teile Sie der Kategorie VIII zu: mäßiges Unbehagen, ohne nachfolgenden Schaden. Die Schmerzen und Übelkeit sind ja wirklich unbedeutend, und eigentlich müßte ich Sie unter Kategorie III eintragen. Aber ich glaube zu verstehen, daß Sie sich – hm – wie soll ich mich ausdrücken – ein wenig schämen.«

Wie abwesend ergriff er das Papier und stolperte weiter zur Tür. Dort blieb er unschlüssig ein paar Sekunden lang stehen, wandte sich plötzlich steif um und sagte:

»Darf ich vielleicht nur sagen, daß ich nicht verstehe, was über mich gekommen ist. Ich war wie von Sinnen und sagte Dinge, die ich gar nicht meine. Keiner kann seinen Dienst mehr lieben als ich, und es fällt mir natürlich nicht ein, ihn aufzugeben. Ich hoffe aufrichtig, meinen guten Willen dadurch beweisen zu können, daß ich die schwierigsten Experimente für den Staat erleide.«

»Wenigstens werden Sie noch bleiben müssen, bis die Hand geheilt ist«, sagte ich leichthin. »Sonst dürfte es Ihnen schwerfallen, zu einer andern Arbeit angenommen zu werden. Was haben Sie sonst gelernt? Soviel ich weiß, wird keine unnötige Extraausbildung auf irgendeinen Mitsoldaten verschwendet, und einen Mann in Ihrem Alter wird man wohl kaum auf einem neuen Gebiet einsetzen, besonders da Sie ja nicht durch ›Invalidität‹ in der Ausübung Ihres selbstgewählten Berufes behindert sind …«

Ich weiß heute noch, daß ich hochmütig und überlegen sprach. Es lag daran, daß ich plötzlich eine bestimmte Abneigung gegen meine erste Versuchsperson gefaßt hatte. Ich glaubte genügend Grund für eine derartige Einstellung zu haben: die Feigheit und die egoistische Verantwortungslosigkeit, welche er unter einer Maske von Mut und Opferwillen verbarg, weil er wußte, daß seine Vorgesetzten es so haben wollten. Ja, die Richtlinien des Siebenten Büros waren mir ins Blut übergegangen! Wenn es sich um vertuschte Feigheit handelte, sah ich ja selbst, wie widrig sie war, vertuschter Trauer gegenüber hatte ich diese Ablehnung zwar noch nicht beobachtet. Was ich dagegen nicht klar sah, war eine andere Ursache meiner Abneigung, eine Abneigung, die ich erst später entdeckte und verstand: wiederum Neid. Der Mann dort, minderwertig in mancher Hinsicht, sprach von einem Augenblick höchster Seligkeit, gewiß vergangen und fast vergessen, aber trotzdem einem Augenblick … Die kurze Ekstase auf dem Weg zum Propagandabüro des Jugendlagers an dem Tage, da er sich zum Freiwilligen Opferdienst anmeldete – ja, darum beneidete ich ihn. Hätte vielleicht ein einziger derartiger Augenblick meinen ewigen Durst, den ich vergebens bei Linda zu löschen suchte, gestillt? Obwohl ich diesen Gedanken nicht zu Ende dachte, hatte ich ein Gefühl, als sei dieser Mann ein Begnadeter, aber undankbar, und das machte mich hart.

Rissens Benehmen hingegen versetzte mich in Erstaunen. Er ging gerade auf Nr.