135 zu, legte seine Hand auf dessen Schulter und sagte in einem warmen Ton, der zwischen Erwachsenen nicht gebräuchlich war, am allerwenigsten zwischen Männern, einem Ton, den man höchstens bei empfindsamen Müttern hörte, wenn sie zu ihren kleinen Kindern sprachen:
»Sie brauchen keine Angst zu haben. Bei diesen Experimenten wird nichts Persönliches weiterberichtet. Es ist, als hätten Sie kein Wort gesagt.«
Der Mann sah scheu auf, drehte sich hastig um und verschwand durch die Tür. Ich glaubte seine Verlegenheit zu verstehen. Hätte er einen Funken mehr Stolz gehabt, dachte ich, würde er sicher einem Chef, der sich einem Untergeordneten gegenüber so familiär benahm, ins Gesicht gespuckt haben, und ich dachte: Wie kann man einem solchen Chef gehorchen und ihn achten! Wen man nicht fürchten muß, der kann auch keinen Respekt verlangen, natürlich, denn Achtung schließt Kraft, Überlegenheit, Macht ein – und Kraft, Überlegenheit und Macht sind für die Umgebung immer gefährlich.
Rissen und ich waren allein. Stille erfüllte den Raum. Ich mochte Rissens Pausen nicht leiden. Sie bedeuteten weder Erholung noch Arbeit.
»Ich ahne, was Sie denken, mein Chef«, sagte ich endlich, um dem Schweigen ein Ende zu bereiten. »Sie denken, daß dies hier nichts beweist. Ich konnte den Mann vorher unterrichtet haben. Was er gesagt hat, war gewiß persönlich bloßstellend, aber nicht strafbar. Daran denken Sie doch wohl?«
»Nein«, sagte Rissen und sah aus, als erwachte er. »Nein, daran dachte ich nicht. Es war doch wohl deutlich genug, daß der Mann einiges gesagt hat, das er wirklich meinte und das er für sein Leben nicht hätte zugeben wollen. Es war ohne Zweifel echt, sowohl sein Bekenntnis wie seine Scham.«
In meinem eigenen Interesse hätte ich mich eigentlich über seine Leichtgläubigkeit freuen sollen, aber in Wirklichkeit reizte sie mich, denn ich fand sie zu unvorsichtig. In unserm Weltstaat, in dem jeder Mitsoldat vom frühesten Alter an zu strenger Selbstbeherrschung erzogen wurde, wäre es gewiß nicht unmöglich gewesen, daß Nr. 135 in diesem Fall eine großartige schauspielerische Leistung vollbracht hätte, obwohl es jetzt zufällig nicht so geschehen war. Doch ich hielt meine Kritik zurück und antwortete nur: »Würden Sie es als undiszipliniert betrachten, wenn ich vorschlüge, fortzufahren?«
Der sonderbare Mann schien nicht zu bemerken, daß ich sprach. »Eine eigentümliche Erfindung«, sagte er gedankenvoll, »wie sind Sie darauf gekommen?«
»Ich habe frühere Versuche ausgebaut«, antwortete ich. »Eine Droge mit gleichen Wirkungen wurde vor ungefähr fünf Jahren erfunden. Aber die berauschenden Nebenwirkungen waren derartig, daß die Versuchspersonen fast ausnahmslos im Irrenhaus landeten – schon nach dem ersten Versuch. Der Erfinder tötete eine Menge Leute, erhielt eine scharfe Warnung, und die Angelegenheit blieb liegen. Nun ist es mir gelungen, die gefährlichen Nebenwirkungen zu neutralisieren. Ich muß gestehen, daß ich gespannt auf die praktischen Experimente gewartet habe …« Und hastig, wie nebenbei, fügte ich hinzu:
»Ich hoffe, daß meine Erfindung den Namen Kallocain nach mir selbst tragen wird.«
»Natürlich, natürlich«, sagte Rissen gleichgültig. »Ahnen Sie selbst, welch große Bedeutung Ihre Erfindung haben wird?«
»Ich ahne es wohl. Wenn die Not am größten ist, ist die Hilfe am nächsten, heißt es. Sie wissen, daß die falschen Zeugenaussagen die Gerichte zu überschwemmen beginnen. Kaum ein Prozeß verläuft, ohne daß die verschiedenen Aussagen sich widersprechen, und das kann unmöglich auf Irrtümern oder Nachlässigkeit beruhen. Worauf es zurückzuführen ist, kann niemand durchschauen, aber es ist so.«
»Ist das so schwer?« fragte Rissen und trommelte auf die Tischplatte, was mich sehr reizte. »Ist es wirklich so schwer, das zu durchschauen? Erlauben Sie mir eine Frage – ja, Sie brauchen sie nicht zu beantworten, wenn Sie keine Lust dazu haben – aber finden Sie Meineid unter allen Umständen verwerflich?«
»Natürlich nicht«, antwortete ich etwas verärgert, »nicht wenn das Wohl des Staates ihn erfordert.
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