Bei jeder Kleinigkeit rechtfertigt es sich selbstverständlich nicht, ihn anzuwenden.«
»Ja, aber denken Sie nach«, sagte Rissen und legte den Kopf verschlagen auf die Seite, »ist es nicht zum Besten des Staates, wenn ein Schurke verurteilt wird, auch wenn er einmal unschuldig büßen muß? Ist es nicht zum Besten des Staates, wenn ein untauglicher, schädlicher, höchst unsympathischer Feind verurteilt wird, auch wenn er von Rechts wegen nichts Strafbares getan hat? Er verlangt natürlich Rücksicht, aber was hat der Einzelne für ein Recht auf Rücksicht …«
Ich wußte nicht recht, worauf er hinaus wollte, und die Zeit verging. Ich läutete schnell nach der nächsten Versuchsperson, und während ich ihr die Spritze gab, antwortete ich:
»Auf alle Fälle hat es sich gezeigt, daß dieser Unfug dem Staat mehr schadet als nützt. Doch meine Erfindung wird das Problem spielend lösen. Die Zeugen können nicht nur kontrolliert werden – sie werden nicht einmal mehr gebraucht, denn der Verbrecher wird nach einer kleinen Einspritzung freudig und vorbehaltlos alles gestehen. Die Nachteile des dritten Grades kennen wir ja – verstehen Sie mich recht, ich kritisiere gewiß nicht, daß er angewandt worden ist, solange nicht ein anderes Mittel zur Verfügung stand – man kann sich ja nicht gut mit Verbrechern solidarisch fühlen, wenn man weiß, daß man nichts Schlechtes auf dem Gewissen hat …«
»Sie scheinen ein ungewöhnlich gutes Gewissen zu haben«, sagte Rissen trocken, »oder geben Sie nur vor, eines zu haben? Meine Erfahrungen haben mir bisher gezeigt, daß kein Mitsoldat über dem vierzigsten Altersjahr ein wirklich reines Gewissen hat. In der Jugend ist es vielleicht der Fall, für manche, aber später … aber vielleicht sind Sie noch gar nicht über vierzig?«
»Nein, ich bin es nicht«, sagte ich und gab mir Mühe, so ruhig wie möglich zu bleiben. Glücklicherweise stand ich der neuen Versuchsperson zugewandt und brauchte Rissen nicht anzuschauen. Ich war aufgebracht, und das nicht nur seines unverschämten Benehmens wegen. Was mich viel mehr reizte, war seine allgemeine Behauptung, der unerklärliche Ausspruch, den er getan hatte – daß alle Mitsoldaten im reifen Alter ein chronisch schlechtes Gewissen hätten! Obwohl er es nicht direkt ausgesprochen hatte, empfand ich seine Worte dunkel als einen Angriff auf die Werte, welche ich als die heiligsten betrachtete.
Er mußte das Abweisende in meinem Ton bemerkt und verstanden haben, daß er zu weit gegangen war. Wir arbeiteten weiter, und das Gespräch beschränkte sich auf die notwendigsten Bemerkungen, die ausschließlich die Versuche betrafen.
Wenn ich mich jetzt bemühe, mir die darauffolgenden Experimente wieder in Erinnerung zu rufen, zeigt es sich, daß sie bei weitem nicht so lebhaft vor mir stehen wie das erste. Dieses war natürlich das spannendste gewesen. Aber ich konnte ja immer noch nicht vollständig sicher sein, daß mein Mittel nie versagen würde, auch wenn es das erste Mal geglückt war. Ich vermute, daß mich meine Gereiztheit Rissen gegenüber ablenkte. Wie genau ich auch arbeitete, ich konnte mich nicht völlig konzentrieren. Und das ist vielleicht der Grund dafür, warum sich die folgenden Versuche nicht so tief in meine Erinnerung einprägten. Ich will darum auch nicht versuchen, alle Einzelheiten zu schildern. Es genügt, wenn ich den Haupteindruck wiedergeben kann.
Nachdem wir schon vor dem Mittagessen an fünf Versuchspersonen das Mittel erprobt hatten und außerdem an zwei weiteren, wovon immer einer elender als der andere war, fühlte ich mich ganz geschlagen und voll wachsender Verachtung und Entsetzen. Ist es wirklich nur Gesindel, das sich zum Freiwilligen Opferdienst meldete, fragte ich mich. Aber ich wußte ja, daß dies nicht der Fall war. Ich wußte, daß für diese Arbeit hochwertige Eigenschaften verlangt wurden, daß man Mut, Opferwillen, Selbstlosigkeit und Entschlossenheit beweisen mußte, bevor man sich zu solch einem Beruf melden durfte. Ich konnte mir auch nicht denken, daß diese Beschäftigung die Leute zerrüttete. Doch die Einblicke, welche ich in das Privatleben der Versuchspersonen gewann, waren niederschmetternd.
Nr. 135 war feige gewesen und hatte seine Feigheit verborgen. Er hatte aber wenigstens seine schöne Seite gehabt: er hielt den großen Augenblick in seinem Leben heilig. Die andern waren ebenso feige wie er, manche in bedeutend höherem Grade. Manche unter ihnen klagten nur, und zwar nicht ausschließlich über ihren Beruf, die Wunden, Krankheiten und die Furcht, welche ihr selbstgewähltes Los waren, sondern auch über eine Menge unwesentlicher Dinge: die Betten im Heim, das immer schlechter werdende Essen (sie hatten es also auch gemerkt!), Nachlässigkeit in der Krankenpflege. Man konnte sich wohl vorstellen, daß es auch in ihrem Leben einmal einen großen Augenblick gegeben hatte, aber der war schon in Vergessenheit geraten. Vielleicht hatten sie auch nicht so viel Willenskraft darauf verwendet, um ihn am Leben zu erhalten, wie Nr. 135. Um die Wahrheit zu sagen: Wie wenig heroisch Nr.
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