135 auch gewirkt hatte, als er in seinem Kallocainrausch vor mir saß – als ich ihn später mit den andern verglich, erschien er mir tatsächlich beinahe wie ein Held. Aber es gab noch mehr, das mich bei den andern Versuchspersonen, derer wir uns in der ersten Zeit bedienten, anekelte und erschreckte: mehr oder minder entwickelte Absonderlichkeiten, widerliche Fantasien, verborgene Laster. Dann gab es einige Verheiratete, die nicht im Heim wohnten und die von ihren ehelichen Schwierigkeiten in einer kläglichen und lächerlichen Art und Weise erzählten. Kurz gesagt, entweder mußte man über den Freiwilligen Opferdienst oder über alle Mitsoldaten des Weltstaates, oder über die biologische Art Mensch überhaupt verzweifeln.
Und jedem versprach Rissen feierlich, daß die kostbaren Geheimnisse gut behütet würden. Das zu verwinden, fiel mir besonders schwer.
Nach einem äußerst starken Fall – sogar noch am ersten Tag – es war der letzte Versuch vor dem Mittagessen, ein Mann, der von Lustmord fantasierte, obwohl er sicher nie etwas verbrochen hatte und wohl auch nie dazu kommen würde – konnte ich es nicht unterlassen, meiner gequälten Stimmung Luft zu machen, indem ich mich bei Rissen ziemlich unbegründet für meine Versuchspersonen entschuldigte.
»Meinen Sie wirklich, daß alle so schreckliches Gesindel sind?« fragte Rissen leise.
»Alle sind gewiß keine künftigen Lustmörder«, antwortete ich, »aber alle scheinen ungewöhnlich erbärmlich zu sein.« Ich hatte Zustimmung erwartet. Es hätte mich erleichtert und irgendwie von all dem Peinlichen entfernt. Als ich merkte, daß er meine starke Abscheu nicht teilte, wurde alles noch qualvoller. Noch während wir in den Speisesaal hinaufgingen, setzten wir das Gespräch fort.
»Ungewöhnlich, ja ungewöhnlich«, sagte Rissen. Dann schlug er einen andern Gedankengang ein und sagte mit veränderter Stimme: »Freuen Sie sich, daß wir nicht auf Heilige und Helden der gewöhnlichen Sorte gefallen sind – ich glaube, daß ich dann weniger überzeugt gewesen wäre. Übrigens haben wir keinen einzigen richtigen Verbrecher unter ihnen gefunden.«
»Ja, aber dieser letzte, dieser letzte! Ich gebe zu, daß er nichts Böses verbrochen hat, und ich glaube auch nicht, daß er irgendeines der Verbrechen, von denen er fantasierte, begehen wird; zumal wenn wir sein Alter und die gute Überwachung im Heim in Betracht ziehen. Aber denken Sie, wenn er jung gewesen wäre und die Möglichkeit gehabt hätte, seine Wünsche in die Tat umzusetzen! In solchen Fällen wird mein Kallocain gute Dienste leisten. Man wird viele Unannehmlichkeiten voraussehen und ihnen vorbeugen können. Gefahren, von denen man heute nicht einmal weiß, daß sie sich nähern …«
»Vorausgesetzt, daß man die richtigen Personen erfaßt, und das ist auch nicht so leicht. Denn Sie glauben doch wohl kaum, daß alle untersucht werden sollen.«
»Warum nicht? Warum nicht alle? Ich weiß, daß es ein Zukunftstraum ist, aber trotzdem! Ich sehe eine Zeit voraus, in der jeder Neubesetzung eines Amtes eine Kallocainuntersuchung vorausgeht, ebenso selbstverständlich wie jetzt die gewöhnlichen psycho-technischen Untersuchungen vorgenommen werden. Auf diese Weise wird nicht nur die Berufseignung des Betreffenden, sondern auch sein oder ihr Wert als Mitsoldat öffentlich bekannt. Ich könnte mir sogar eine jährliche obligatorische Kallocainuntersuchung eines jeden Mitsoldaten vorstellen …«
»Ihre Zukunftspläne sind aber gar nicht anspruchslos«, schob Rissen ein, »das gäbe doch einen allzu großen Apparat.«
»Sie haben ganz recht, mein Chef, es würde eine viel zu umfangreiche Aufgabe. Dazu wäre ein ganz neuer, riesiger Beamtenstab mit Scharen von Angestellten notwendig, die also alle von ihren jetzigen Produktions- und Militärorganisationen abgezogen werden müßten. Bevor eine derartige Neuordnung in Aussicht genommen werden kann, muß erst die Bevölkerungszahl erhöht werden, wie wir es jetzt so viele Jahre lang propagiert haben, wovon aber noch nicht das geringste zu spüren ist. Vielleicht können wir auf einen neuen, großen Eroberungskrieg hoffen, der uns reicher und produktiver machen wird.«
Rissen schüttelte jedoch den Kopf.
»O gewiß nicht«, sagte er, »wenn man nur entdeckt, daß ein Plan notwendiger als alles andere ist, das einzig Notwendige, das einzige, das unsern Übermächtigen beruhigen – ja sagen wir seine Besorgnisse vermindern kann, dann können Sie sicher sein, daß der Beamtenstab zur Verfügung gestellt wird. Er wird dasein, wir werden unsern Lebensstandard herabsetzen, wir werden unsern Arbeitstakt erhöhen, und das große schöne Gefühl vollkommener Sicherheit wird ersetzen, was wir verlieren werden.«
Ich war nicht sicher, ob diese Bemerkung ernst oder ironisch gemeint war. Einerseits seufzte ich bei der Aussicht auf einen noch weiter herabgesetzten Lebensstandard (man ist ja undankbar, dachte ich. Der Mensch ist genußsüchtig und egoistisch, wenn es sich um etwas Größeres handelt als um die Befriedigung des einzelnen), anderseits fühlte ich mich bei dem Gedanken, daß Kallocain einmal eine derartige Rolle spielen könnte, geschmeichelt. Aber bevor ich irgend etwas antworten konnte, fügte er in einem andern Tone hinzu:
»Etwas ist ziemlich sicher, und zwar, daß jetzt der letzte Rest unseres Privatlebens verlorengeht.«
»Na ja, das ist doch nicht so wichtig!« sagte ich freudig, »die Gemeinschaft ist im Begriff, das letzte Gebiet, in das asoziale Tendenzen bisher ihre Zuflucht nehmen konnten, zu erobern. Wie ich die Lage sehe, bedeutet diese Erfindung ganz einfach, daß die große Gemeinschaft ihrer Vollendung nahesteht.«
»Die Gemeinschaft«, wiederholte er langsam, als zweifle er daran.
Ich bekam nie Gelegenheit, darauf zu antworten. Wir standen vor der Tür des Speisesaals und mußten uns trennen, um unsere Plätze an verschiedenen Tischen einzunehmen. Stehenbleiben und unser Gespräch zu Ende führen konnten wir nicht, teils, weil es Mißtrauen erweckt hätte, teils, weil wir nicht dem heftigen Strom Menschen, die sich nach ihrem Mittagessen sehnten, im Wege stehen konnten. Aber während ich an meinen Platz ging und mich niedersetzte, dachte ich über seinen zweifelnden Ton nach und ärgerte mich.
Er muß ja doch begriffen haben, was ich meinte. Das mit der Gemeinschaft war ja keine freie Erfindung von mir. Jeder Mitsoldat mußte schon als Kind den Unterschied zwischen niedrigerem und höherem Leben lernen, das niedrigere: unkompliziert und undifferenziert – zum Beispiel einzellige Tiere und Pflanzen, das höhere: kompliziert und mannigfach differenziert – zum Beispiel der menschliche Körper als feine und gut funktionierende Einheit. Jeder Mitsoldat mußte auch lernen, daß es sich mit den Gesellschaftsreformen genau gleich verhielt: Von einer planlosen Horde hatte die Gesellschaft sich zu der höchstorganisierten und -differenzierten aller Formen entwickelt: zu unserm jetzigen Weltstaat.
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