Vom Individualismus zum Kollektivismus – von der Einsamkeit zur Gemeinschaft. Das war der Weg dieses riesigen, heiligen Organismus, in welchem der einzelne nur eine Zelle war, der keine andere Bedeutung zukam, als der Ganzheit des Organismus zu dienen. So viel wußte jeder, der das Jugendlager hinter sich hatte, und so viel mußte Rissen also auch wissen. Außerdem sollte er begriffen haben, was nicht so schwer zu verstehen war: daß Kallocain ein notwendiges Glied in dieser ganzen Entwicklung darstellte, da es auch die Gedanken des einzelnen in der großen Gemeinschaft erfaßte, Gedanken, die man früher für sich behalten hatte. Verstand Rissen etwas so Logisches wirklich nicht, oder wollte er nicht verstehen?

Ich warf einen Blick in der Richtung seines Tisches. Dort saß er in seiner nachlässigen Haltung und rührte zerstreut in seiner Suppe. Dieser Mann beunruhigte mich auf eine unerklärliche Weise. Er war nicht nur merkwürdig, daß es manchmal schon lächerlich wirkte, sondern in seinem Benehmen ahnte ich auch noch dunkel eine Gefahr. Noch wußte ich nicht, worin diese Gefahr bestehen konnte, aber gegen meinen Willen zog er meine Aufmerksamkeit auf alles, was er sagte und tat.

Unsere Experimente sollten nach dem Essen fortgesetzt werden, und jetzt waren es kompliziertere Versuche. Ich hatte sie in Gedanken an einen skeptischeren Kontrollchef als Rissen geplant, aber auf alle Fälle war Genauigkeit eine Tugend. Das Resultat meiner Versuche würde ja weitergegeben werden. Wenn der Kontrollchef seine Zustimmung gab, würden sie in allen Chemiestädten, vielleicht auch von den Juristen der Hauptstadt diskutiert werden. Die Versuchspersonen, nach denen wir jetzt verlangten, konnten ruhig ein Gebrechen haben, sie mußten nur im vollen Gebrauch ihrer Sinne sein. Das genügte. Dagegen mußten sie eine andere Bedingung erfüllen, und zwar eine, die wohl höchst selten an eine Versuchsperson gestellt wurde: sie mußten verheiratet sein.

Wir hatten uns mit dem Polizeichef telefonisch in Verbindung gesetzt, um die Erlaubnis für dieses Experiment einzuholen. Wenn wir auch über Körper und Seele der Angestellten beim Freiwilligen Opferdienst verfügten, ohne auf etwas anderes Rücksicht zu nehmen als auf das Wohl des Staates, so verfügten wir ja nicht ohne weiteres über deren Frauen und Männer, genau so wenig wie über andere Mitsoldaten. Dazu mußten wir die besondere Erlaubnis des Polizeichefs besitzen. Anfangs war er etwas unwillig. Er fand es unnötig, sie zu erteilen, solange noch Leute vom Berufs-Opferdienst vorhanden waren. Er begriff sicher gar nicht, um was es sich handelte, aber als wir ihn so lange bearbeitet hatten, daß er schon ungeduldig wurde, und nachdem wir ihn überzeugt hatten, daß den Leuten nichts Schlimmeres geschehen würde als der Schreck und eine leichte Übelkeit, gab er endlich seine Einwilligung. Er befahl uns jedoch, am Abend bei ihm vorbeizukommen, um ihm in Ruhe nähere Auskunft über diese Angelegenheit zu geben.

Die zehn Verheirateten vom Opferdienst wurden zusammen hereingerufen. In meiner Kartothek mußte ich nicht nur ihre Nummern, sondern auch ihre Namen und Adressen, die gar nicht auf ihrer eigenen Karte standen, eintragen, und das erweckte auch ein gewisses Erstaunen und Unbehagen. Ich mußte sie beruhigen und sie von meinem Plan unterrichten. Sie sollten zu ihrem Mann oder ihrer Frau nach Hause kommen und sich beunruhigt und ängstlich zeigen, oder, wenn es ihnen leichter fiele, einen gewissen rosenroten Optimismus in bezug auf die Zukunft zur Schau tragen. Von ihren Angehörigen bestürmt, sollten sie endlich im Vertrauen erzählen, daß sie in eine Spionageaffäre verwickelt seien. Vielleicht hatte ihnen in der Untergrundbahn jemand zugeflüstert, daß sie viel Geld verdienen könnten, wenn sie nur eine Karte der Laboratorien und der Metrolinien, die um die Zentrale des Freiwilligen Opferdienstes herumlagen, nach ihrem Gedächtnis zeichnen würden. Dann sollten sie abbrechen und mit keiner Miene verraten, daß es sich um ein Experiment handelte.

Am selben Abend fuhren wir auf die Polizei, jeder mit einer Bescheinigung vom höchsten Chef unseres Laboratoriumsdistriktes versehen, sowie mit einer Besuchslizenz von der Polizei, die uns per Eilboten geschickt worden war. Ich hatte mit knapper Not gegen einen späteren Doppeldienst von meinem Militär- und Polzeidienstabend befreit werden können. Wir waren jedoch froh, mit dem Polizeichef überhaupt in Berührung zu kommen; bei unserem Vorhaben brauchten wir seine Hilfe. Es war immerhin sehr schwierig, ihn zu überzeugen, nicht weil es ihm im allgemeinen schwerfiel, etwas zu begreifen – das Gegenteil war der Fall –, sondern weil er schlechter Laune und deutlich gegen jedermann mißtrauisch war.