Ich muß bekennen, daß sein ganz natürliches Mißtrauen einen besseren Eindruck auf mich machte als Rissens Leichtgläubigkeit; auch wenn es sich zufällig auf mich bezog. Als wir ihn endlich gewonnen hatten, war ich wenigstens überzeugt, eine sehr wichtige Tür mit dem richtigen und erlaubten Schlüssel geöffnet zu haben, weder mit einem Dietrich noch mit einem Fußtritt. Es handelte sich ja darum, die Ehepartner zu unserer Verfügung zu haben, nachdem sie durch unsere Versuchspersonen »ins Vertrauen gezogen« worden waren. Sie konnten dann von Rechts wegen als Mitschuldige an der Verschwörung angezeigt und nachher nach allen Regeln der Kunst verhaftet werden, wenn sie uns nur auf irgendeine Weise zugeführt würden. Ob er seine Polizisten einweihen wollte oder nicht, oder ob er es vorzog, den Plan für sich zu behalten, war Sache des Polizeichefs. Das einzig Wichtige war, daß die verhafteten Ehepartner sich bei uns einer Kallocain-Untersuchung unterziehen mußten. Wenn er es wünschte, könnte er ja selbst kontrollieren, daß die Verhafteten bei uns keinen Schaden erlitten und also kein Menschenmaterial unnötig vergeudet würde –, er könnte persönlich kommen oder einen Vertrauensmann schicken, in beiden Fällen würden wir uns geschmeichelt fühlen. Ich glaube übrigens, daß das »persönlich« ihn milder gestimmt hatte. Trotz seiner schlechten Laune war er auf meine Erfindung neugierig. Als wir endlich die schriftliche Bestätigung des vorausgegangenen telefonischen Versprechens mit der steilen, markanten Unterschrift, Vay Karrek, erhalten hatten, bereiteten wir ihn darauf vor, daß einige der nichts ahnenden Ehepartner Stellung nehmen und den angeblichen Verbrecher anzeigen könnten. Da alles nur ein Spiel war, sollte es natürlich nicht zu wirklichen Verhaftungen kommen – wir überreichten ihm die Liste mit den Namen der Versuchspersonen –, dagegen würden wir ihm sehr dankbar sein, wenn die Leute morgen vormittag so früh wie möglich festgenommen werden könnten.
Als ich nach Hause kam und in den Elternraum trat – Linda war schon ins Bett gegangen –, lag auf dem Nachttisch eine Mitteilung für mich. Sie betraf den Militär- und Polizeidienst: von vier Abenden in der Woche wurde er auf fünf erweitert. Bis auf weiteres sahen sich die Behörden also gezwungen, die zwei wöchentlichen Familienabende auf einen herabzusetzen, während der Fest- und Vortragsabend ungekürzt beibehalten wurden. (Der letztere war ja auch notwendig, und zwar nicht nur zur Erholung und Belehrung der Mitsoldaten, sondern auch für das Fortbestehen des Staates. Wo und wann sollten sich sonst die Mitsoldaten, die schon das Jugendlager verlassen hatten, treffen und sich verlieben? Auch Linda und ich hatten diesen Fest- und Vortragsabenden unsere Ehe zu verdanken.) Die Mitteilung war ganz im Sinne der Beobachtungen, die ich in letzter Zeit gemacht hatte, und ich sah, daß auf Lindas Nachttisch ein ähnliches Schreiben lag.
Wir wußten aus Erfahrung, daß allerlei Unvorhergesehenes die Familienabende beeinträchtigte. Es könnte also lange dauern, bis ich wieder einmal einen Abend für mich selbst hätte. Da es noch nicht spät war, und ich selbst noch nicht so müde wie gewöhnlich nach Dienstabenden, beschloß ich, noch die Entschuldigung abzufassen, die durch das Radio verbreitet werden sollte:
»Ich, Leo Kall, beschäftigt in einem der größeren Laboratorien für organische Gifte und Betäubungsmittel, Versuchsabteilung in der Chemiestadt Nr. 4, habe eine Entschuldigung vorzubringen. Beim Abschiedsfest für die eingezogenen Arbeitskräfte aus dem Jugendlager, am 19. April d. J., beging ich einen schweren Fehler. Von falschem Mitleid ergriffen, das den einzelnen beklagt und falschen Heldenmut verkörpert, einem solchen Mitleid, da sich mit Vorliebe dem Tragischen und Düsteren, anstatt dem Hellen und Freudigen des Lebens zuwendet, hielt ich folgende Ansprache. (Hier fügte ich die Rede ein, die in leicht ironischem Tone gelesen werden sollte.) Jetzt hat das Siebente Büro des Propagandaministeriums folgende Kritik darüber abgegeben: Wenn ein begeisterter usw. (Die Kritik mußte auch wiederholt werden, da sie ja das Wichtigste für die Zuhörer war, gewissermaßen eine Warnung für alle, die zu derselben Einstellung neigten.) Ich entschuldige mich hiermit für mein bedauerliches Vergehen. Ich sehe ein, wie tief begründet und berechtigt die Unzufriedenheit des Siebenten Büros des Propagandaministeriums war, und ich bin bis in tiefster Seele bereit, mich von nun an nach dessen überzeugender Darstellung der Frage zu richten.«
Am folgenden Morgen bat ich Linda, das Schreiben schnell durchzulesen, und sie war befriedigt. Es war in keiner Weise übertrieben, niemand konnte eine verborgene Ironie hineindeuten, auch konnte man mich nicht falschen Stolzes bezichtigen. Es brauchte also nur abgeschrieben und eingesandt zu werden, und dann mußte man noch Schlange stehen, um in der Entschuldigungsstunde des Radios an die Reihe zu kommen.
5
Das Experiment nahm sofort eine ziemlich bedrohliche Wendung. Schon früh am Vormittag läuteten wir die Polizei an, um anzufragen, ob irgend etwas geschehen sei, und doch kamen wir mit unserem Anruf spät. In neun von zehn Fällen hatte der eine Ehepartner den andern angezeigt, und ob sich der zehnte nicht auch schon auf dem Weg befand, war schwer zu sagen. Jedenfalls war der Haftbefehl erlassen worden, und wir konnten die betreffende Person in zwei bis drei Stunden in unserm Laboratorium erwarten.
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