Vermutlich hatte sie Angst. Ihre straffe Haltung und ihr beherrschter Gesichtsausdruck hätten unter normalen Verhältnissen einen tapferen und energischen Mitsoldaten vermuten lassen. Jetzt dagegen machte sie einen trotzigen und aufsässigen Eindruck. Ich mußte beinahe lächeln, als ich daran dachte, daß ihr teuer behütetes Geheimnis der Wirklichkeit gar nicht entsprach und daß wir es ihr entlocken würden – wir, die seinen Wert kannten … noch mehr, wenn man berücksichtigte, was sie schon alles für nichts hatte durchmachen müssen: die Fahrt im Eiltempo im plombierten Wagen der untersten Metrolinie, der Polizei- und Militärlinie, geknebelt und gebunden und außerdem von zwei Polizisten bewacht – so wie es üblich war, wenn ein Hochverräter an irgendeinen Bestimmungsort geführt wurde. Aber ich ließ mir mein Lächeln nicht anmerken. Selbst wenn die ganze Geschichte erfunden war und die ganze Untersuchung eine Komödie – ihre Beteiligung war auf jeden Fall echt und ebenso verbrecherisch, ob sie nun auf Absicht oder Nachlässigkeit beruhte.

Als sie sich auf den Stuhl setzte, war sie nahe daran, bewußtlos zu werden. Wahrscheinlich hielt sie mein unschuldiges Laboratorium für eine Folterkammer, wo wir jetzt versuchen würden, aus ihr herauszupressen, was sie verschweigen wollte. Während ihr Rissen über ihren Ohnmachtsanfall hinweghalf, gab ich ihr eine Einspritzung, und schweigend warteten wir alle drei, der Polizeichef, Rissen und ich.

Von dieser zarten und erschreckten Versuchsperson, die ja nicht einmal berufsmäßig im Opferdienst tätig, sondern eine Außenstehende war, wenn man diesen Ausdruck gebrauchen kann, konnte ja fast jeder einen ähnlichen Weinkrampf wie von Nr. 135, meinem ersten Opfer, erwarten. Aber das Gegenteil geschah. Die steifen, gespannten Züge lösten sich sanft, unendlich sanft, und machten einem kindlich-ehrlichen Ausdruck Platz. Die Falten auf der Stirn glätteten sich. Über die mageren Wangen und die vorstehenden Backenknochen glitt überraschenderweise ein fast glückliches Lächeln. Mit einem Ruck richtete sie sich im Stuhl auf, öffnete weit die Augen und atmete tief. Eine geraume Weile saß sie schweigend da. Ich befürchtete schon beinahe, daß mein Kallocain sich nun doch als unzuverlässig erweisen würde.

»Nein, es gibt ja nichts, vor dem man sich fürchten muß«, sagte sie endlich in einem verwunderten und erleichterten Ton. »Das muß er ja auch wissen. Weder Schmerzen noch Tod. Nichts. Er weiß es. Warum sollte ich es dann nicht sagen? Warum sollte ich auch nicht darüber sprechen? Ja gewiß, er erzählte es mir. Gestern abend sprach er davon – und jetzt verstehe ich, daß er in jenem Moment schon wußte, was mir erst jetzt klargeworden ist: daß es nichts gibt, vor dem man Angst haben muß. Aber, daß er es wußte, als er mit mir sprach! Das werde ich nie vergessen. Daß er es wagte! Ich hätte es nie gewagt. Aber es ist der Stolz meines Lebens, daß er es wagte, und ich werde mein ganzes Leben lang dankbar sein, und ich werde versuchen, dasselbe zu tun.«

»Was hat er gewagt?« warf ich ein, eifrig bemüht, zur Sache zu kommen.

»Mit mir zu sprechen. Über etwas, das ich nicht gewagt hätte …«

»Und worüber sprach er?«

»Das spielt keine Rolle. Das ist unwesentlich. Etwas Dummes. Jemand wollte von ihm Auskünfte haben, Skizzen, und ihm Geld dafür bezahlen. Er hat noch nichts getan.