Daß sich die Polizei für solch eine Entdeckung interessiert, ist ja verständlich.«
Mit größter Freude lud ich ihn ein, uns, wann immer er es wünschte, einen Besuch abzustatten, und gleichzeitig ergriff ich die Gelegenheit, ihm das Verzeichnis der neuen Versuchspersonen zu übergeben. Möge es mit dieser Gruppe nur nicht auch so wie mit der ersten gehen, dachte ich. Kaum war mir der Gedanke bewußt geworden, als mich ein Schreck durchzuckte: hier stand ich nun also und wünschte, daß eine gewisse Anzahl Mitsoldaten verräterisch gesinnt sein mochte … Rissens gestrige Worte fielen mir wieder ein: kein Mitsoldat über vierzig hat ein reines Gewissen. Und sofort stieg ein heftiger Unwille gegen Rissen in mir auf, als sei er es gewesen, der einen staatsfeindlichen Wunsch in mir erzeugt hätte. Irgendwie hatte ich vielleicht recht – nicht so, daß mein Wunsch sein Werk war, aber so, daß ich ohne seine Worte vielleicht nie an den Gegensatz gedacht hätte.
Die Frau bewegte sich im Stuhl und wimmerte leise. Rissen reichte ihr ein Beruhigungsmittel.
Plötzlich sprang sie mit einem Schrei auf. Sie krümmte sich vor Schreck, hielt sich die Hände vor den Mund und begann laut zu jammern. Der Moment war gekommen, in dem sie wieder zum vollen Gebrauch ihrer Sinne gelangte und sich ihrer Worte bewußt wurde.
Der Anblick war schrecklich und beklagenswert, erfüllte mich aber doch mit einer gewissen Befriedigung. Vorhin, als sie noch in kindlicher Sorglosigkeit dasaß, hatte ich gegen meinen Willen tiefer und ruhiger als gewöhnlich geatmet. Sie hatte eine Ruhe ausgestrahlt, die an Schlaf erinnerte. Ich weiß übrigens nicht einmal, ob ich mich ausruhe, wenn ich schlafe. Bin ich wach, so gibt es erst recht keine Entspannung für mich. Als sie dort saß und sich bei einem andern, ihrem Mann, geborgen fühlte – da hatte er sie schon enttäuscht, er hatte sie von Anfang an getäuscht – und jetzt hatte auch sie ihn enttäuscht, ohne es zu wollen. Genauso unwirklich wie sein Verbrechen gewesen war und ihr Gefühl der Geborgenheit von vorhin, ebenso unwirklich war jetzt ihr Schreck. Ich mußte an die Fata Morgana denken, in welcher der Wanderer über die Salzwüsten hinwegschaut: Palmen, Oasen, Quellen – schlimmstenfalls beugt er sich nieder, trinkt aus den Salztümpeln und verendet. Sie hat dasselbe getan, dachte ich, denn so ist es immer mit dem Trunk, den wir aus asozialen, individual-sentimentalen Quellen schlürfen. Eine Illusion, eine gefährliche Illusion.
Sie sollte die volle Wahrheit wissen, nicht um ihr die Reue zu erleichtern, sondern sie sollte sich der ganzen Nichtigkeit ihres kurzen Gefühls der Geborgenheit bewußt werden.
»Beruhigen Sie sich«, sagte ich. »Sie haben keine Ursache zu klagen, wenigstens nicht über Ihren Mann. Geben Sie genau acht auf das, was ich Ihnen jetzt sage: Ihr Mann hat den Kerl in der Metro nie getroffen. Er ist vollkommen unschuldig. Die ganze Geschichte hat er Ihnen in unserm Auftrag erzählt. Es war ein Experiment – mit Ihnen!«
Sie starrte mich an und schien es nicht zu fassen.
»Die ganze Spionagegeschichte ist Lüge«, wiederholte ich und konnte ein kleines Lächeln nicht unterdrücken, obgleich ich eigentlich nichts Lächerliches dabei fand. »Das Vertrauen Ihres Mannes gestern war gar kein Vertrauen. Er handelte auf Befehl.«
Einen Augenblick schien es, als fiele sie wieder in Ohnmacht, aber dann richtete sie sich steif auf. Dann stand sie mitten im Zimmer, wie versteinert. Ich hatte ihr nichts mehr zu sagen, konnte aber meine Blicke nicht von ihr lassen. So wie sie jetzt dastand, verschlossen und steif wie ein totes Ding ohne einen Schimmer der glücklichen Geborgenheit von vorhin, erweckte sie heftiges Mitleid in mir. Es war eine Schwäche, deren ich mich schämte, aber die Frau vor mir machte einen zu starken Eindruck auf mich. Ich vergaß den Polizeichef, ich vergaß Rissen, und ein unklarer Wunsch stieg in mir auf, ihr klarzumachen, daß es mir genauso ging wie ihr … Aus dieser schmerzvollen Sekunde rissen mich die Worte des Polizeichefs: »Ich bin der Meinung, daß die Frau noch in Haft bleiben muß. Die ganze Spionageaffäre war zwar erfunden, aber die Beteiligung bestimmt ernst gemeint.
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