Anderseits können wir ja nicht so einfach Urteile fällen, denn dies muß auf eine etwas gesetzlichere Weise geschehen.«

»Unmöglich!« rief Rissen verwirrt, »denken Sie daran, daß dies ein Experiment ist, daß es sich um unsere Angestellten handelt oder besser um deren Ehegatten …«

»Wie sollte ich darauf Rücksicht nehmen können?« fragte Karrek lachend.

Für dieses eine Mal stand ich ganz und gar auf Rissens Seite.

»Eine derartige Verhaftung muß bekannt werden«, sagte ich, »sogar wenn wir ihren Mann entlassen und ihn anderswo anstellen – was übrigens mit Leuten vom Opferdienst, ihrer angegriffenen Gesundheit wegen, schon schwer genug ist. Aber auch dann wird die Geschichte herauskommen, und die schwierige Propagandakampagne für den Opferdienst wird vermutlich ganz fehlschlagen. Mit Hinsicht darauf bitte ich Sie: unterlassen Sie diese Verhaftung!«

»Sie übertreiben«, antwortete Karrek, »die Geschichte muß gar nicht bekannt werden. Wozu sollte man ihren Mann anderswo anstellen? Auf dem Heimweg könnte ihm sehr gut ein Unfall passieren.«

»Es kann doch nicht Ihr Ernst sein, unsern bereits so klein gewordenen Bestand an Versuchspersonen noch zu verringern«, antwortete ich beschwörend. »Die Frau ist nicht mehr gefährlich: Ein anderes Mal wird sie nicht wieder so leichtsinnig Vertrauen haben. Übrigens«, fügte ich einem plötzlichen Einfall folgend hinzu, »die Verhaftung unserer Versuchsperson bedeutet, daß Sie Kallocain schon als rechtliches Untersuchungsmittel anerkannt haben, und den Zeitpunkt, mein Chef, sahen Sie doch selbst noch für verfrüht an …«

Der Polizeichef kniff die Augen zu zwei schmalen Schlitzen zusammen, lächelte spitz, jedoch nicht unfreundlich und sagte in einem Ton, als spräche er zu Kindern:

»Sieh mal einer an, Sie besitzen Rednergaben und Logik. Um des Laboratoriums willen sehe ich also von einer Verhaftung ab. Persönlich bin ich ja nicht daran interessiert. Jetzt muß ich gehen (er sah auf seine Uhr), aber zu neuen Experimenten komme ich wieder.«

Er ging. Die Frau wurde von ihren Handschellen befreit und entlassen. Sowohl um des Laboratoriums wie um ihrer selbst willen atmete ich erleichtert auf. Als sie hinausgeführt wurde, ging sie steif wie eine Nachtwandlerin, und zum zweitenmal jagte sie mir einen Schrecken in die Glieder: Wenn ich mich jetzt doch verrechnet hätte, wenn es sich herausstellte, daß mein Kallocain dieselben schlechten Nachwirkungen wie seine Vorgänger aufweisen würde? Vielleicht nicht immer, aber doch für gewisse empfindliche Nervensysteme? Doch, ich beruhigte mich wieder, und keine meiner schlimmen Ahnungen traf ein. Durch ihren Mann erfuhr ich später, daß die Frau ganz normal zu sein schien, wenn auch noch etwas verschlossener als gewöhnlich. Verschlossen ist sie jedoch schon immer gewesen, hatte er hinzugefügt.

Als wir wieder allein waren, sagte Rissen:

»Dort haben Sie den Keim zu einer anderen Art Gemeinschaft gesehen.«

»Gemeinschaft?« fragte ich verwundert. »Wie meinen Sie das?«

»Bei ihr, der Frau.«

»Oh!« sagte ich mit wachsender Verwunderung. »Aber diese Art von Gemeinschaft – ja, Sie haben recht, mein Chef, einen Keim zur Gemeinschaft kann man es vielleicht nennen – aber mehr auch nicht! Diese Art von Gemeinschaft existierte ja schon während der Steinzeit! In unserm Zeitalter ist sie ein Fossil, und dazu ein schädliches. Ist es nicht so?«

»Hm«, sagte er nur.

»Aber dieser Fall war gerade ein Schulbeispiel dafür, wohin wir kommen, wenn die einzelnen zu sehr aneinander hängen!« sagte ich eindringlich. »Dabei zerbricht leicht das Wichtigste, die Verbundenheit mit dem Staat!«

»Hm«, sagte er wieder. Und einen Augenblick später: »Vielleicht wäre es gar nicht so dumm, in der Steinzeit zu leben.«

»Das ist natürlich Geschmackssache. Wenn man dem gut organisierten Staat, der auf gegenseitiger Hilfe aufgebaut ist, den Kampf aller gegen alle vorzieht, dann wäre es vielleicht sehr schön, in der Steinzeit zu leben. Komisch, daran zu denken, daß mitten unter uns Neandertaler leben …«

Ich hatte dabei schon an Rissen gedacht, bekam aber einen Schreck, als ich es ausgesprochen hatte, und fügte hinzu:

»Ich meine natürlich die Frau.«

Es schien mir, als wende er sich ab, um mich sein Lächeln nicht merken zu lassen. Ärgerlich, was einem doch alles auch ohne Kallocainspritze entschlüpfen kann!

6

Als ich nach Arbeitsschluß heimkam, sagte mir der Hauswart, daß jemand um eine Freiluftlizenz für den Distrikt nachgesucht hatte, um mich persönlich treffen zu können. Ich starrte auf den Namen. Kadidja Kappori. Unbekannt. Ich konnte mich wenigstens nicht daran erinnern, den Namen früher schon einmal gehört zu haben. Ihr Anliegen hatte der Hauswart am Telefon nicht recht begriffen. Er glaubte aber, verstanden zu haben, daß es sich um eine Ehescheidung handle. Äußerst geheimnisvoll. Mit der Zeit wurde ich so neugierig, daß ich, alle Vorsicht außer acht lassend, das Papier unterschrieb, mich bereit erklärte, sie zu empfangen, und den Treffpunkt festsetzte.