Und Edo Rissen war früher in der Lebensmittelfabrik angestellt gewesen, in der Linda gearbeitet hatte. Ich wußte, daß sie ziemlich viel miteinander zu tun gehabt hatten, und auf Grund verschiedener kleiner Anzeichen schloß ich, daß er einen gewissen Eindruck auf meine Frau gemacht hatte.

Bei ihrer Frage erwachten meine Eifersucht und mein Mißtrauen. Wie eng war eigentlich das Verhältnis zwischen ihr und Rissen? In einer großen Fabrik bestand für zwei Menschen oft die Möglichkeit, sich außer Sichtweite der andern zu treffen, in Lagerräumen zum Beispiel, wo Ballen und Kisten die Sicht durch die Glaswände verhinderten und wo vielleicht gerade niemand arbeitete … Und Linda hatte in der Fabrik ja auch Nachtwache gehabt. Rissen hätte sehr gut an demselben Abend Dienst haben können. Alles war möglich, und sogar das Schlimmste von allem: daß sie immer noch ihn und nicht mich liebte.

Damals grübelte ich selten über das, was ich dachte oder fühlte, oder darüber, was andere dachten oder fühlten, soweit es nicht unmittelbar praktische Bedeutung für mich hatte. Erst später, während meiner einsamen Zeit als Gefangener, kam der Augenblick, da ich mich zurückwenden mußte, kam der Moment, der mich zwang, nachzudenken, zu deuten und wieder zu deuten. Jetzt, so viel später, weiß ich, daß, als ich damals so glühend auf Klarheit über die Beziehungen zwischen Linda und Rissen hoffte, ich eigentlich die Bestätigung haben wollte, daß etwas zwischen ihnen bestand. Ich wollte sicher sein, daß sie sich zu einem andern hingezogen fühlte, ich wollte eine Gewißheit haben, die meiner Ehe ein Ende bereiten könnte.

Aber damals hätte ich einen derartigen Gedanken mit Verachtung zurückgewiesen. Linda spiele in meinem Leben eine allzu wichtige Rolle, hätte ich gesagt. Und so war es auch. Kein Nachgrübeln und keine andern Erklärungen haben das je ändern können. Ihre Bedeutung für mich kam der meiner Karriere gleich. Gegen meinen Willen hielt sie mich auf ganz unvernünftige Weise fest.

Man kann über »Liebe« als einen veralteten romantischen Begriff sprechen, aber ich fürchte, daß sie trotzdem besteht und von Anfang an ein unbeschreiblich qualvolles Moment enthält. Ein Mann fühlt sich zu einer Frau, eine Frau zu einem Manne hingezogen, aber mit jedem Schritt, mit dem sie sich einander nähern, geben sie etwas von sich selbst preis: eine Reihe von Niederlagen, statt der erhofften Siege. Schon in meiner ersten Ehe – kinderlos und darum sinnlos, sie weiterzuführen – hatte ich einen Vorgeschmack davon bekommen. Linda steigerte diesen, bis er zu einem schrecklichen Traum wurde. Während der ersten Jahre unserer Ehe verspürte ich wirklich einen Albdruck, obwohl ich ihn damals nicht mit ihr in Verbindung brachte: mitten in einem großen Dunkel stand ich im grellen Licht eines Scheinwerfers und spürte aus dem Dunkel Augen auf mich gerichtet. Ich krümmte mich wie ein Wurm, um wegzukommen, und konnte die unsägliche Scham über meine unanständigen Lumpen nicht überwinden. Erst später begriff ich, daß dies ein gutes Bild meines Verhältnisses zu Linda war, wo ich mich selbst erschreckend durchleuchtet fühlte, obwohl ich alles versuchte, davonzuschleichen und mich zu schützen. Dabei schien sie dasselbe Rätsel zu bleiben, wunderbar, stark, fast übermenschlich, aber ewig beunruhigend, weil ihre Rätselhaftigkeit ihr eine verhaßte Überlegenheit gab. Wenn sich ihr Mund zu einem schmalen, roten Strich zusammenzog – o nein, es war weder ein höhnisches noch ein freudiges Lächeln, eher glich der Mund einem gespannten Bogen –, blickten ihre Augen groß und unbeweglich – und immer wieder durchzuckte mich dasselbe Angstgefühl, und immer wieder fesselte sie mich, zog mich unbarmherzig an, obgleich ich ahnte, daß sie sich mir nie offenbaren würde. Ich glaube, daß man von Liebe sprechen muß, wenn man in der größten Hoffnungslosigkeit zueinander hält, als ob trotz allem ein Wunder geschehen könnte – wenn die Qual selbst eine Art eigenen Wert bekommen hat und davon zeugt, daß man wenigstens etwas gemeinsam hat: warten auf etwas, das es nicht gibt.

Um uns herum sahen wir, wie Eltern geschieden wurden, sobald ihre Kinder groß genug für das Lager waren – sich scheiden ließen und neue Ehen eingingen, um wieder Kinder zu zeugen. Ossu, unser Ältester, war schon acht Jahre alt und also schon ein ganzes Jahr im Kinderlager gewesen. Laila, die Jüngste, war vier Jahre und konnte also noch drei Jahre lang zu Hause bleiben. Und dann? Sollten wir uns auch scheiden lassen und uns wieder verheiraten, in der kindlichen Einbildung, das Warten würde mit einem andern weniger hoffnungslos? All meine Vernunft sagte mir, daß dies eine trügerische Illusion sei. Eine einzige, kleine, unvernünftige Hoffnung flüsterte: Nein, nein – daß es dir mit Linda mißglückt ist, beruht darauf, daß sie zu Rissen will! Sie gehört zu Rissen, nicht zu dir! Verschaffe dir die Gewißheit, daß er es ist, an den sie denkt – dann ist alles klar und du kannst noch auf eine neue, sinnvolle Liebe hoffen!

Solche sonderbaren Gedanken erweckte Lindas selbstverständliche Frage.

»Vermutlich Rissen«, antwortete ich und lauschte eifrig in das Schweigen, das folgte.

»Bin ich indiskret, wenn ich frage, um was für ein Experiment es sich hier handelt?« fragte die Hausgehilfin.

Zu dieser Frage hatte sie ja ein begründetes Recht, und gewissermaßen war sie ja dazu da, die Vorkommnisse in der Familie zu kontrollieren. Falls sich das Gerücht über mein Experiment verbreiten sollte, konnte ich mir nicht vorstellen, was daran verdreht oder gegen mich ausgelegt werden könnte, noch was für ein Schaden dem Staat dadurch zugefügt werden würde.

»Ich hoffe, daß es dem Staat zum Nutzen gereichen wird«, sagte ich. »Es ist ein Mittel, welches jeden Menschen dazu bringen wird, seine Geheimnisse preiszugeben. Alle Geheimnisse, die bis heute jeder aus Scham oder Furcht verschwiegen hat. Sind Sie aus dieser Stadt, Mitsoldat-Hausgehilfin?«

Es kam vor, daß man manchmal auf Leute stieß, die in Zeiten von Menschenmangel von anderswo hergeholt wurden und die darum nicht über die Allgemeinbildung der Chemiestädte verfügten, sondern nur hin und wieder etwas aufgeschnappt hatten.

»Nein«, sagte sie und errötete, »ich bin von draußen.«

Es war streng verboten, nähere Angaben über seine Herkunft zu machen, da diese vom gegnerischen Spionagedienst hätten verwendet werden können.