Darum war sie natürlich auch rot geworden.

»Dann werde ich auf die chemische Zusammensetzung oder Herstellung nicht näher eingehen«, sagte ich. »Das muß man übrigens überhaupt vermeiden, denn diese Angaben dürfen ja unter keinen Umständen in private Hände gelangen. Vielleicht haben Sie aber davon gehört, wie früher Alkohol als Rauschmittel angewandt wurde und was für Wirkungen er hatte?«

»Ja«, sagte sie, »ich weiß, daß er Heim und Gesundheit zerstörte und in den schlimmsten Fällen zum Erzittern des ganzen Körpers und zu Halluzinationen von weißen Mäusen, Hühnern und dergleichen führte.«

Ich erkannte die Worte aus den einfachsten Elementarbüchern wieder und lächelte leise. Anscheinend war sie noch nicht dazu gekommen, sich die Allgemeinbildung der Chemiestädte anzueignen.

»Ganz richtig«, sagte ich, »so war es in den schlimmsten Fällen. Aber bis es so weit kam, geschah es oft, daß die unter dem Einfluß des Alkohols Stehenden nicht mehr wußten, was sie sagten, Geheimnisse verrieten und unvorsichtige Handlungen begingen, weil ihr Scham- und Angstgefühl gestört war. Das sind auch die Wirkungen meines Mittels – so denke ich wenigstens, da ich es ja noch nicht vollständig ausprobiert habe. Der Unterschied liegt aber darin, daß es nicht geschluckt, sondern direkt ins Blut eingespritzt wird, und überhaupt hat es eine ganz andere Zusammensetzung. Die unangenehmen Nachwirkungen, die Sie aufgezählt haben, fehlen ihm auch – auf alle Fälle braucht man keine so große Dosis zu nehmen. Ein leichter Kopfschmerz ist alles, was die Versuchsperson nachher verspürt, und es kommt nicht vor, wie es manchmal bei Alkoholberauschten der Fall war, daß sie hinterher vergessen, was sie gesagt haben. Sie verstehen wohl, daß es sich um eine wichtige Erfindung handelt. In Zukunft wird kein Verbrecher die Wahrheit ableugnen können. Sogar unsere innersten Gedanken sind nicht mehr unser Eigentum, wie wir so lange zu Unrecht geglaubt haben.«

»Zu Unrecht?«

»Ja gewiß, zu Unrecht. Aus Gedanken und Gefühlen werden Worte und Handlungen geboren. Wie ist es dann möglich, daß Gedanken und Gefühle Privateigentum des einzelnen sein könnten? Gehört nicht der ganze Mitsoldat dem Staat? Wem sollten denn seine Gedanken und Gefühle gehören, wenn nicht dem Staate? Bis heute bestand nur keine Möglichkeit, sie zu kontrollieren – jetzt aber ist das Mittel erfunden.«

Sie warf mir einen kurzen Blick zu, doch senkte sie die Augen sofort wieder. Sie verzog keine Miene, aber ich hatte den Eindruck, daß sie erblaßte.

»Sie brauchen nichts zu befürchten, Mitsoldat«, ermunterte ich sie, »es besteht nicht die Absicht, all die kleinen Liebesgeschichten oder Antipathien jedes einzelnen aufzudecken. Wenn meine Erfindung in private Hände fallen würde – ja, dann könnte man sich leicht vorstellen, was für ein Chaos daraus entstehen würde! Aber das darf natürlich nicht geschehen. Das Mittel soll unserer Sicherheit dienen, unser aller Sicherheit, der des Staates.«

»Mir ist nicht bange, ich habe nichts zu verbergen«, antwortete sie ziemlich kühl, obwohl ich es doch nur freundlich gemeint hatte.

Wir gingen zu einem andern Thema über. Die Kinder erzählten, was sich im Laufe des Tages im Lager abgespielt hatte. Sie hatten sich in der Spielkiste vergnügt – einem riesigen, emaillierten Becken, wohl vier Meter im Quadrat und ein Meter tief, wo man nicht nur kleine Spielbomben abwerfen und Wälder und kleine Häuschen aus brennbarem Material anzünden konnte, sondern wo man auch ganze Miniaturseeschlachten ausfocht. Dann füllte man das Becken mit Wasser und lud die Kanonen der kleinen Schiffe mit demselben leichten Sprengstoff, der für die Bomben verwendet wurde; es gab sogar Torpedoboote. Auf diese Weise lernten die Kinder spielend Strategie, sie ging ihnen ins Blut über, wurde fast ein Instinkt, und gleichzeitig war es ein Vergnügen erster Ordnung. Manchmal beneidete ich meine eigenen Kinder, daß sie mit so vollendeten Spielsachen aufwachsen konnten – in meiner Kindheit war der leichte Sprengstoff noch nicht erfunden – und ich verstand nicht recht, daß sie trotzdem mit ihrer ganzen Seele danach verlangten, sieben Jahre alt zu werden und ins Kinderlager zu kommen, wo die Übungen viel mehr wirklicher militärischer Ausbildung glichen und wo die Kinder ständig wohnten.

Oft kam es mir vor, als sei die neue Generation realistischer eingestellt, als wir es in unserer Kindheit waren. Gerade an dem Tag, von dem ich spreche, sollte ich ein neues Beweisstück dafür erhalten. Da es ja Familienabend war und weder Linda noch ich Militär- oder Polizeidienst hatten, und da Ossu, mein Ältester, auf Besuch zu Hause war – so kam das Familienleben zu seinem Recht –, hatte ich mir etwas ausgedacht, um die Kinder zu belustigen. Vom Laboratorium hatte ich mir ein kleines Stück Natrium gekauft, das ich mit seiner blaßvioletten Flamme auf dem Wasser herumfahren lassen wollte. Wir stellten eine volle Schüssel auf den Tisch, löschten das Licht und versammelten uns um mein kleines chemisches Wunder. Ich selbst war als Kind über dieses Phänomen sehr entzückt gewesen, als mein Vater es mir zeigte, aber auf meine Kinder machte es fast keinen Eindruck. Ossu, der schoß und mit kleinen Knallerbsen, die Handgranaten darstellen sollten, warf, schätzte die kleine, bleiche Flamme nicht, das war vielleicht ganz natürlich. Aber daß auch Laila, die Vierjährige, von einer Explosion, die nicht das Leben einiger Feinde kostete, unberührt blieb, verblüffte mich. Die einzige, die fasziniert zu sein schien, war Maryl, die Mittlere.