Es bestand ja ein großer Unterschied: Bei solchen Anlässen wußten alle, sowohl die Abreisenden wie die Zurückgebliebenen, daß den jungen Menschen, die ihre Heimatstadt verließen, kein Haar gekrümmt werden würde, daß im Gegenteil alles für sie getan würde, damit sie sich schnell und ohne Schwierigkeiten in ihrer neuen Umgebung einlebten, und daß es ihnen dort recht bald gut gefallen möge. Die Ähnlichkeit bestand nur darin, daß beide Teile mit fast hundertprozentiger Sicherheit wußten, daß sie sich nie mehr wiedersehen würden. Um Spionage zu vermeiden, war ja zwischen den Städten keine andere Verbindung als die offizielle gestattet, die von vereidigten und streng kontrollierten Beamten besorgt wurde. Sollte wirklich der eine oder andere dieser jungen Leute im Verkehrsdienst landen – eine äußerst geringe Möglichkeit, da die Verkehrsbeamten fast immer von jung auf in besonderen Verkehrsschulstädten für ihren Beruf erzogen wurden, so müßte außerdem der besondere Umstand eintreten, daß man ihn auf einer in seine Heimatstadt führenden Linie einsetzen würde und daß seine Freizeit mit der der Seinen zusammenfiele. Dies alles galt für den Überlandverkehr – das Fliegerpersonal lebte ja unter dauernder Bewachung und vollständig von der Familie getrennt. Kurz, es hätte einer ganzen Kette von Zufällen bedurft, um Eltern und Kinder zusammenzuführen, nachdem diese einmal an einen andern Ort versetzt worden waren. Aber davon abgesehen – ein solcher Tag war ein Freudenfest, ganz wie es sich gebührte, wenn etwas zum Wohl und Nutzen des Staates unternommen wurde, und man hatte ja kein Recht, dann düstere Gedanken zu wälzen.

Hätte ich der Feier selbst als fröhlicher Teilnehmer beigewohnt, wäre wohl alles ganz anders gekommen. Die Hoffnung auf eine gute Mahlzeit – bei solchen Gelegenheiten ist das Essen immer reichlich und gut zubereitet, und die Teilnehmer fallen wie hungrige Wölfe darüber her –, die Trommel, die Ansprachen, das festliche Gedränge, die gemeinsamen Hochrufe: all das versetzte den Saal in eine große, einheitliche Ekstase, wie es üblich und wünschenswert war. Ich gehörte jedoch weder zu den Eltern noch zu den Geschwistern oder Jugendleitern. Der Abend war einer der vier in der Woche, an denen ich Militär- und Polizeidienst zu verrichten hatte. Ich war nur in meiner Eigenschaft als Polizeisekretär dort. Das bedeutete nicht nur, daß ich meinen Platz auf einer der vier kleinen Eckerhöhungen innehatte und zusammen mit drei andern Polizeisekretären in den andern drei Ecken über die Veranstaltung Protokoll führen mußte, sondern es war auch meine Pflicht, einen klaren Kopf zu behalten, um allerlei Beobachtungen über die Vorgänge im Saale machen zu können. Für den Fall, daß Streit entstehen oder geheime Pläne ausgeführt werden sollten, wenn beispielsweise einer der Teilnehmer versuchen sollte, sich nach dem Appell zu entfernen – war es eine große Hilfe für den Vorsitzenden und die Türwächter, die oft durch die Vorgänge im Saal abgelenkt sein konnten, daß vier Polizeisekretäre die ganze Zeit den Saal bewachten. Dort saß ich also allein und ließ meine Blicke über die Menschenmenge streifen, und wenn ich einerseits selbst gern mitgemacht und die allgemeine Freude geteilt hätte, so glaube ich, daß anderseits mein Opfer voll und ganz durch das Bewußtsein meiner Wichtigkeit und Würde aufgewogen wurde. Im übrigen würde man im Laufe des Abends von einem andern abgelöst, so daß man noch an der Mahlzeit teilnehmen und allen Kummer vergessen konnte.

Die abschiednehmenden Mädchen, kaum mehr als fünfzig an der Zahl, waren in der Menge leicht zu erkennen, da sie vergoldete Festkronen trugen, welche die Stadt für derartige Anlässe zur Verfügung stellte. Besonders eine von ihnen erweckte meine Aufmerksamkeit, vielleicht weil sie ungewöhnlich schön war, vielleicht auch, weil eine lebhafte Unruhe wie heimliches Feuer in ihren Blicken und Bewegungen lag. Mehrere Male ertappte ich sie dabei, wie sie suchende Blicke in Richtung der jungen Männer warf – das war am Anfang des Festes gewesen, während die Einakter aufgeführt wurden und die jungen Männer und Mädchen noch nach ihren Lagern getrennt in Gruppen saßen –, bis sie endlich gefunden zu haben schien, was sie suchte, und das in ihren Gebärden sich spiegelnde Feuer in eine ruhige, klare Flamme überging. Ich glaubte auch das Gesicht, welches sie gesucht und gefunden hatte, erkannt zu haben: eines, so schmerzlich ernst unter all den erwartungsvollen und freudigen Gesichtern, daß es einem fast weh tat. Sobald die letzte Aufführung beendet war und sich die Gruppen auflösten, sah ich die beiden mit blinder Sicherheit durch die Menge auf die Mitte zueilen, wo sie zwischen den schreienden und singenden Menschen einsam und allein stehen blieben. Mitten im Lärm waren sie auf einer einsamen Insel, ohne zu wissen, in welchem Raum oder in welcher Zeit sie sich befanden.

Ich wachte auf und war über mich selbst erschreckt. Den beiden war es gelungen, mich in ihre asoziale Welt zu locken – eine Welt, losgerissen aus dem einzigen, großen Heiligtum für alle: der Gemeinschaft. Vielleicht war ich nur müde, weil mich ihr bloßer Anblick ausruhen ließ. Mitleid verdienten die beiden ja weniger als alles andere, dachte ich. Was kann eigentlich für die Charakterbildung eines Mitsoldaten nützlicher sein, als ihn frühzeitig an große Opfer für große Ziele zu gewöhnen! Wie viele sehnen sich nicht ihr ganzes Leben lang nach einem großen Opfer! Ich konnte sie nur beneiden, und Neid lag auch in dem Mißvergnügen, das ich auf den Gesichtern ihrer Kameraden zu bemerken glaubte – Neid und ein Funken von Verachtung darüber, daß soviel Zeit und Kraft auf einen einzigen Menschen vergeudet wurden. Ich selbst konnte sie jedoch nicht verachten. Es war das ewige Spiel, schön in seiner tragischen Unerbittlichkeit. Auf jeden Fall muß ich sehr müde gewesen sein, denn die ganze Zeit kreiste mein Interesse um die wenigen ernsten Momente, welche das muntere Fest bot. Nur wenige Minuten nachdem meine Blicke das junge Paar losgelassen hatten – übrigens waren sie von ungeduldigen Kameraden getrennt worden –, wurde ich auf eine magere Frau mittleren Alters aufmerksam, welche vermutlich die Mutter eines der abgerufenen Mädchen war. Auch sie schien irgendwie aus der lärmenden Gemeinschaft ausgeschlossen zu sein. Ich weiß nicht recht, wie mir dies Abseitsstehen bewußt wurde, beweisen hätte ich es nie können, denn trotz allem nahm sie an dem Fest teil.