Sie bewegte sich im Takt der Marschierenden, nickte den Sprechenden zu und stimmte in die Hochrufe ein. Trotzdem glaubte ich wahrnehmen zu können, daß alles nur ganz mechanisch geschah, daß sie nicht von der befreienden Woge der Kollektivität mitgerissen wurde, sondern irgendwie außerhalb stand, auch außerhalb ihrer eigenen Stimme und Bewegungen, genauso abgeschieden wie die beiden Jungen. Die Menschen um sie herum müssen dasselbe empfunden haben, denn von allen Seiten versuchten sie, an sie heranzukommen. Mehrere Male sah ich von meiner Erhöhung, wie jemand sie am Arm nahm und mit sich zog oder sie ansprach und ihr zunickte, aber bald zogen sie sich wieder enttäuscht zurück, obwohl an ihren Antworten und an ihrem Lächeln nichts auszusetzen gewesen war. Nur ein kleiner, lebhafter und häßlicher Mann ließ sich nicht so leicht abschrecken. Als sie ihn müde angelächelt hatte und dann wieder in ihren noch müderen Ernst zurückgefallen war, blieb er etwas abseits stehen und beobachtete sie mit sichtlicher Nachdenklichkeit.
Ohne daß ich wußte, warum, kam mir die müde, verschlossene Frau nahe. Verstandesmäßig sah ich ein, daß, wenn schon die beiden Jungen Neid verdienten, dies in noch höherem Grade auf sie zutraf; ihr opferwilliger Heldenmut – und damit auch ihre Stärke und ihr Ehrgefühl – war dem des jungen Paares überlegen. Das Gefühl der Jungen würde trotz allem bald erlöschen und durch eine neue Flamme ersetzt werden; und sollten sie versuchen, die Erinnerung aufrechtzuerhalten, so würde sie dennoch aufhören zu schmerzen und nur die Eintönigkeit des Alltages verschönern und erhellen. Das Opfer der Mutter hingegen würde sich jeden Tag erneuern. Ich spürte ja selbst, wie mich die Abwesenheit Ossus, meines Ältesten, bedrückte, der doch noch zweimal wöchentlich nach Hause kam, obwohl es mir sicher gelingen würde, es eines Tages zu überwinden. Dabei hoffte ich wirklich, auch wenn er einmal erwachsen sein würde, ihn in der Chemiestadt Nr. 4 behalten zu können. Gewiß ahnte ich, daß dies eine allzu persönliche Einstellung den kleinen Mitsoldaten gegenüber war, die man dem Staat geschenkt hatte, und offen hätte ich sie nie zeigen wollen, aber heimlich beeinflußte sie in einem gewissen Grad mein Leben, vielleicht gerade darum, weil sie so vollkommen verborgen und unterdrückt werden mußte. Denselben Schmerz, dieselbe verschwiegene Beherrschung glaubte ich aus dem Benehmen der Frau herauszufühlen. Ich konnte es nicht unterlassen, mich in ihre Lage hineinzudenken: wie sie ihre Tochter nie mehr wiedersehen, ja kaum mehr von ihr hören sollte, da die Post Privatbriefe immer strenger durchsiebte, so daß jetzt nur noch wirklich wichtige Nachrichten, gebührend begründet und sachlich verfaßt, an den Empfänger weitergeleitet wurden. Und ein etwas vermessener und individual-romantischer Gedanke durchzuckte mich. Eine Art »Ersatz« war den Mitsoldaten zugedacht, welche die gefühlsbetonte Seite ihres Daseins dem Staate zuwandten, und dieser »Ersatz« sollte im Höchsten und Kostbarsten bestehen, das man erstreben konnte: in der Ehre. Wenn die Ehre verstümmelten Kriegern Trost, ja übergenug Trost bot, warum sollte sie nicht dasselbe für jeden Mitsoldaten darstellen, der sich innerlich verstümmelt fühlte? Das war ein rührender und romantischer Gedanke, der im Laufe des Abends zu einer übereilten Handlung den Anlaß geben sollte.
Die Stunde der Ablösung schlug, ich überließ meinen Platz einem neuen Polizeisekretär, stieg in den Saal hinunter und versuchte in der allgemeinen Begeisterung aufzugehen. Ich war vielleicht zu müde und zu hungrig, als daß es mir vollauf gelingen konnte. Zum Glück fuhren gerade die gedeckten Abendbrottische aus den Küchenregionen auf gut geschmierten Schienen in den Saal, und alle rückten mit ihren Zeltstühlen an die Herrlichkeiten heran. Ob es reiner Zufall war, oder ob sie mich absichtlich aufgesucht hatte, weiß ich nicht, aber merkwürdig genug war, daß gerade die Frau, welche mir aufgefallen war, mir nun gegenüber saß. Es ist nicht ausgeschlossen, daß sie mich gesehen und auf meinem Gesicht Sympathie gelesen hatte. Hingegen war es sicherlich kein Zufall, daß der kleine, lebhafte und häßliche Mann, welcher sie vorhin beobachtet hatte, auch herankam und ganz in der Nähe Platz nahm.
Nach seinem Benehmen zu urteilen, hatte er sich in den Kopf gesetzt, bei der Frau gerade das hervorzuzwingen, was sie verbergen wollte. An und für sich waren alle seine Äußerungen unverfänglich, aber immer wieder streifte er die Wunden, welche er bei seiner Tischnachbarin vermutete. Bedauernd sprach er über die Einsamkeit, welche die jungen Mädchen erwartete. Um die Bildung schädlicher Gruppen zu unterbinden, erzählte er, würden die versetzten Mitsoldaten immer in großer Entfernung voneinander placiert. Dazu kämen Schwierigkeiten mit dem ungewohnten Klima und neuen Lebensgewohnheiten. Übrigens schienen Schuhstädte in Frage zu kommen – aber woher stammte dieses Gerücht? Das Ziel der Reise war und sollte ja ein Geheimnis bleiben, und die Vermutungen konnten ebenso begründet wie falsch sein! – und unter diesen Schuhstädten gab es wohl einige wenige gleich südlich gelegene wie die Chemiestadt Nr. 4, aber die meisten lagen hoch im Norden und hatten ein rauhes Klima mit langen, harten und dunklen Wintern, die jeden Fremden trübsinnig stimmen konnten. Am schlimmsten war es wohl mit der Sprache.
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