Ein dritter wartete darauf, dass die rote Ampel an der Ecke umsprang. Sie hielt Ausschau nach einem vertrauten Gesicht, konnte jedoch niemanden entdecken. Als sie sich weiter umsah, erkannte sie Ed Gainer, den leitenden Ermittler aus dem Büro des Leichenbeschauers, der ihr aus seinem Wagen zuwinkte.
»Ich komme gleich«, sagte er. »Haben Sie schon was gehört?«
»Nur ein Wort: Beeilung.«
Er nickte in Richtung der Medienvertreter. »Das Büro des Polizeichefs hat die Meldung per Funk durchgegeben. Ich fasse es nicht, dass es nicht telefonisch passiert ist. Eigentlich müssten sie es besser wissen.«
Lena zuckte mit den Achseln. Natürlich wussten sie es besser. So wie jeder, der eine Dienstmarke trug: Am Polizeifunk hörten die Reporter mit.
Während sie sich am Transporter der Kriminaltechnik vorbeischlängelte, fragte sie sich, warum der Polizeichef und sein Assistent wohl die Presse hergelockt haben mochten. Wieder musste sie an das Wort Falle denken. Im nächsten Moment trat sie in die Seitengasse und fühlte sich fast, als hätte jemand das Licht ausgeknipst. Die ganze Straße war in einen tief dunkelgrauen Nebel gehüllt, und der Geruch nach Küchendünsten aus dem Tiny’s lag in der Luft. Lena wedelte den Qualm weg und entdeckte ihren ehemaligen Partner Pete Sweeney, der mit Terry Banks mitten auf der Straße stand. Einige Spurensicherungsexperten warteten am Straßenrand, während ein gedrungener Mann, dessen Haut die Farbe von Kaffee mit Sahne hatte, den Tatort mit einer motorbetriebenen Nikon fotografierte. Der Fotograf hieß Lamar Newton und war ebenfalls ein Freund und Verbündeter, auf den Lena sich verlassen konnte.
Lena näherte sich und folgte der Richtung der Kameralinse, bis ein Müllcontainer ihr die Sicht versperrte. Sie ging schneller und warf dabei einen Blick zurück zu den beiden Mordermittlern aus Hollywood. Sweeney, eigentlich ein Bär von einem Mann und stets die Gelassenheit in Person, war kreidebleich im Gesicht und wirkte verstört. Terry Banks machte einen nicht minder beklommenen Eindruck. Seine ebenholzschwarze Haut und sein kahlrasierter Schädel waren trotz des kalten Windes schweißnass.
Sweeney winkte Lena heran. Als sie endlich um den Müllcontainer herumspähen konnte, war auf dem Boden allerdings keine Leiche zu sehen. Nur fünf grüne Müllsäcke, der vorderste davon aufgerissen.
»Tut mir leid, dass du den Fall hier abgekriegt hast, Lena. Du bist nicht zu beneiden.«
Sweeneys Stimme war leise und konnte den Lärm der Stadt und das rhythmische Geräusch des Kameramotors kaum übertönen.
Lena drehte sich zu dem Müllsack um. Es gehörte nicht viel dazu, um zu erraten, was er enthielt. Etwas Grausiges. Etwas, das so schrecklich war, dass man den Fall an das Dezernat für Raub und Tötungsdelikte weiterverwiesen hatte.
Sweeney versetzte ihr einen Rippenstoß und wies auf den schwarzweißen Streifenwagen, der direkt hinter ihnen stand. Auf dem Rücksitz saß ein Jugendlicher. Die Tür war offen, und der Junge trug Handschellen. Sein Haar war lang und braun, und Lena erkannte an seinen schmutzigen Kleidern und den löchrigen Schuhen, dass sie einen Obdachlosen vor sich hatte. Als er sie ansah, traf sie ein Blick aus stumpfen Augen, der ihr sagte, dass er entweder ein religiöser Fanatiker oder ein Drogensüchtiger war. Doch schon im nächsten Moment verrieten ihr seine bis zum Zahnfleisch heruntergefaulten Zähne, dass er Crack, nicht etwa Jesus Christus verehrte.
»Der Kleine hat den Tag auf dem Planeten X verbracht und dabei mächtig Hunger gekriegt«, erklärte Sweeney.
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