Inzwischen war er seit mindestens zehn Jahren als Ermittler im Büro des Leichenbeschauers tätig, und Lena nahm an, dass er in dieser Zeit schon so manches gesehen hatte. Dennoch merkte sie seinem Tonfall und auch seinem Blick an, dass ihn der Tod von Jane Doe Nr. 99 nicht unberührt ließ. Es war der Grund, warum sie diesen Mann achtete und bewunderte.

»Offenbar müssen wir bei null anfangen«, verkündete sie.

»Madina weiß, dass wir es mit einer Jane Doe zu tun haben. Sie sind in guten Händen. Es ist alles arrangiert.«

»Danke, Ed. Auch dafür, dass Sie so lange geblieben sind.«

»Keine Ursache, Lena. Was ist denn aus Sweeney und Banks geworden?«

»Die sind mit dem Jungen weg. Wir geben die Straße frei und packen hier zusammen.«

Nachdem sie sich die Hand geschüttelt hatten, blickte sie ihm nach, während er in den Wagen stieg und mit der Leiche davonfuhr. Als sie sich erneut zu der Gasse umdrehte, erschauderte sie in der kalten Abendluft. Sie kramte den Terminplan des Polizeichefs aus der Jackentasche. Zum ersten Mal seit sechs Stunden fielen ihr der Polizeichef und sein Handlanger wieder ein. Sechs Stunden lang hatte sie im Sinne des Opfers ermittelt, ohne sich von behördeninternen Intrigen ablenken zu lassen. Sie entfaltete das Papier und trat unter eine Straßenlaterne. Laut Plan hielt sich Polizeichef Logan noch im Parker Center auf. Die Polizeikommission veranstaltete wieder einmal eine Krisensitzung zum Thema Bandenkriminalität. Lena erinnerte sich an das Flugblatt an der Tür zum Büro des Captains. Man schlug die Ernennung eines Bandensonderbeauftragten vor, der mit einem Budget von einer Million Dollar ausgestattet werden sollte, um eine Art Marshallplan, unter anderem Programme zur Ausstiegshilfe und der Schaffung von Arbeitsplätzen, umzusetzen. Da die Hälfte aller Tötungsdelikte in Los Angeles inzwischen auf das Konto von Banden gingen und die Gewalt allmählich in die teuren Wohnviertel überschwappte, handelte es sich um eine sehr wichtige Besprechung. Also würde der Polizeichef mindestens bis zehn oder elf Uhr beschäftigt sein. Wenn sie sofort losfuhr und die Straßen frei waren, würde sie ihn vielleicht noch vor Ende der Sitzung abfangen können.

Lena schulterte ihren Aktenkoffer und marschierte die Gasse entlang. Als sie den Wagen der Spurensicherung umrundete, hörte sie, wie die Reporter auf der anderen Straßenseite ihr Fragen zuriefen. Doch sie achtete nicht darauf. Die Luft war so schneidend, dass sie es kaum erwarten konnte, die Heizung einzuschalten. Endlich hatte sie ihr Auto erreicht und ließ den Motor an. Im selben Moment vibrierte ihr Mobiltelefon. Sie warf einen Blick auf die Anzeige.

Es war Denny Ramira, der einzige Reporter auf der ganzen Welt, der ihre Mobilfunknummer kannte. Ramira war Kriminalreporter bei der Times. Obwohl sie einiges zusammen erlebt hatten, zögerte Lena, das Gespräch anzunehmen. Aber nachdem sie das Telefon eine Weile angestarrt hatte, überlegte sie es sich anders und klappte es auf.

»Ich weiß, dass sich das nicht gehört«, begann er. »Aber ich friere mir hier draußen die Eier ab, und es hat ganz den Anschein, als würdet ihr für heute zusammenpacken.