Eine Vermisstenanzeige würde, wenn überhaupt, erst einen Tag später gestellt werden.
»Ich weiß, dass ich wieder einmal zu ungeduldig bin, Howard. Ich hatte nur auf ein bisschen Glück gehofft.«
»Wir reden nach der Autopsie weiter. Dann können wir es sicher einschränken. Größe, Gewicht, noch ein paar Daten eben.«
»Danke, Howard.«
Lena warf das Telefon auf den Beifahrersitz und trank einen Schluck Kaffee. Er war heiß und stark und genau das, was sie jetzt brauchte. Durch die Windschutzscheibe sah sie eine lange Reihe von Bremslichtern aufleuchten. Der Verkehr wurde erst zähflüssig und kam schließlich zum Stillstand. Benson hatte unwissentlich eine unschöne Erinnerung in ihr wachgerufen. Auch Lena war einmal, zusammen mit ihrem Bruder David, eine sechzehnjährige Ausreißerin gewesen. Nach dem Tod ihres Vaters waren sie aus Denver geflohen, um nicht in die Maschinerie des Jugendamtes zu geraten. Sechs Monate lang hatten sie im Auto ihres Vaters gelebt, bis Lena genug Geld verdiente, um eine kleine Wohnung zu mieten. Ihre Kindheit in Colorado hatten sie hinter sich gelassen und waren nie zurückgekehrt.
Sie trank noch einen Schluck Kaffee. Als die anderen Autos sich wieder in Bewegung setzten, legte sich zwar die Erinnerung, aber nicht die Einsamkeit, die so erdrückend, endgültig und beharrlich war. Lena versuchte, nicht darauf zu achten und sich auf den Verkehr zu konzentrieren.
Eigentlich hätte die vierzehn Kilometer weite Fahrt in die Innenstadt nur zehn Minuten in Anspruch nehmen sollen, entpuppte sich allerdings als an den Nerven zerrende fünfundvierzigminütige Weltreise in einem Tempo von fünfzehn Stundenkilometern.
Als Lena eine Lücke im Polizeiparkhaus gefunden hatte und im Laufschritt über die Straße zum Parker Center eilte, war es kurz vor elf. Die ersten Teilnehmer an der Sitzung, die im Erdgeschoss stattgefunden hatte, kamen bereits aus dem Gebäude.
Lena drängte sich durch die Menschenmenge. Beim Betreten des Raums stellte sie fest, dass sich der Polizeichef und sein Assistent bereits von ihren Plätzen erhoben. Lena zählte vier der fünf zivilen Angehörigen der Kommission, die geblieben waren, um die Fragen der Reporter und der weiteren dreißig bis vierzig Interessenten zu beantworten. Allerdings schien der Großteil der Aufmerksamkeit einem energischen Mann mit grau meliertem Haar zu gelten. Als er sich umdrehte, erkannte Lena, dass es sich um Senator Alan West handelte. West war nach seiner einstimmigen Wahl durch den Stadtrat vom Bürgermeister in die Kommission eingesetzt worden, um das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Polizei zu stärken. Inzwischen hatte er drei Jahre seiner ersten fünfjährigen Amtszeit hinter sich. Es hieß zwar, dass er beabsichtigte, in der Politik zu bleiben, aber Lena hatte in der Zeitung gelesen, er hielte seine Zusammenarbeit mit der Polizei für nicht minder wichtig. Während der Polizeichef für das Alltagsgeschäft zuständig war, zeichneten ein Bürgerrechtsanwalt, ein ehemaliger Bürgermeister, zwei Strafverteidiger und Senator Alan West für den Kontakt zwischen Polizei und Bürgern verantwortlich.
Lena wandte sich zum Polizeichef um, der sie zu sich winkte. Als sie Klinger ansah, wies er auf die Nische vorne im Raum. Obwohl Lena sich noch immer fragte, warum der Polizeichef Klinger zu seinem Assistenten bestimmt hatte, ähnelten sich die beiden Männer heute Abend wie zwei Buchstützen. Offenbar ergänzten sie sich mit ihrer durchtrainierten Figur und ihrer militärisch strammen Haltung großartig. Hinzu kamen ihr elegantes Äußeres, das einen beinahe schon geckenhaften Eindruck machte, und ihr kurzes graues Haar. Der einzige Unterschied lag in ihren Augen. Die von Klinger waren von einem fast seelenvollen Braun und unergründlich. Die des Polizeichefs betonten seine markanten und intelligenten Züge, waren jedoch schwarz wie die Nacht und konnten ihr Gegenüber zuweilen bohrend mustern.
Lena umrundete den Tisch, trat in die Nische und wünschte, sie hätte bessere Nachrichten gehabt.
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