Wie sie wusste, rührte ihre Schlaflosigkeit daher, dass die Ermittlungen auf der Stelle traten. Hinzu kamen der Druck aus der Chefetage, die fehlenden Beweise, dass sie die Identität des Opfers nicht kannte und dass sie nicht wusste, wo sie anfangen sollte. Es war ein allgemeines Gefühl der Ratlosigkeit, das sich einfach nicht abschütteln ließ.
Im Umkleideraum zog Lena einen OP-Overall über ihren Hosenanzug, griff nach einem Paar Überschuhe und setzte sich auf die Bank. Als die Tür aufschwang, hob sie den Kopf und sah Art Madina vor sich, der gerade die Schutzmaske abnahm.
»Wie war es in New Haven?«, fragte sie.
»Ein wenig beängstigend.«
»Viele Diavorführungen?«
»Der Kongress behandelte das Thema Nahrungsmittelversorgung. Die Bundesregierung hat wegen des Krieges die Anzahl der Kontrolleure halbiert. Niemand kümmert sich mehr um den Laden.«
»Was hat unsere Nahrungsmittelversorgung denn mit Pathologie zu tun?«
»In den letzten fünfundzwanzig Jahren haben wir uns hauptsächlich mit HIV beschäftigt, Lena. Inzwischen ist jedoch der Rinderwahn unser Problem. Durch Abkochen lässt sich der Erreger nicht abtöten, weil er genau genommen gar nicht lebt. Außerdem ist die Krankheit unheilbar. Es gibt kein Medikament, das den Patienten retten könnte.«
»Ist die Lage so ernst?«
»Wie ich schon sagte kümmert sich niemand um den Laden. Essen Sie viel Rindfleisch?«
Sie warf ihm einen Blick zu und bemerkte im nächsten Moment das Glas Vicks VapoRub auf dem Regal.
»Reichen Sie mir mal den Ketchup rüber«, meinte sie.
Lächelnd händigte Madina ihr eine Schutzbrille, eine OP-Maske und das Vicks VapoRub aus. Er war ein zierlicher Mann von Anfang vierzig, mit aufmerksam leuchtenden Augen und so kurz geschnittenem Haar, dass es fast militärisch wirkte. Inzwischen war Madina die erste Wahl des Staatsanwalts, wenn es darum ging, bei einem Prozess Beweise zu präsentieren. Lena bemerkte, dass er sich heute noch nicht rasiert hatte, und auch die dunklen Ringe unter seinen Augen, die sich bis auf die Wangen hinunterzogen. Obwohl er letzte Nacht vermutlich nicht viel Schlaf abbekommen hatte, war sie froh, dass er die Autopsie durchführte.
»Was hat der Chef gesagt?«, erkundigte sie sich.
Madina zuckte mit den Achseln. »Das Flugzeug ist erst um halb sieben gelandet, sodass ich mir die Mühe gespart habe, nach Hause zu fahren. Die Röntgenaufnahmen sind komplett. Die Leiche liegt auf dem Tisch, und alles ist bereit. Sie sind eine halbe Stunde zu früh dran.«
»Ja, ich weiß.«
Er schob die Türen auf. Im Raum fanden drei Autopsien gleichzeitig statt. Der Hausfotograf wanderte von einem Tisch zum nächsten. Lena hörte, dass ein Assistent die Schädelsäge anwarf. Die elektrischen Insektenfallen surrten und knackten, wenn eine Fliege, angezogen von der heißen Luft, darin verglühte. Lena atmete tief durch und konzentrierte sich auf das Gel, mit dem sie ihre Nasenlöcher bestrichen hatte. Heute wirkte der Mentholgeruch nicht, und sie fragte sich nach dem Grund. Ein Blick durch den Raum verriet ihr, dass die Leiche an der rückwärtigen Tür bereits stark vewest war.
Autopsien durfte man nicht auf die leichte Schulter nehmen. So notwendig sie auch sein mochten.
Madina wies in eine Ecke. Lena schaute in die angegebene Richtung und dachte im ersten Moment an eine Verwechslung, denn die junge Frau auf dem stählerenen Autopsietisch schien intakt zu sein, während das Opfer in den Müllsäcken ganz offensichtlich zerstückelt gewesen war. Erst beim Näherkommen stellte Lena fest, dass Madina die Einzelteile wieder zusammengesetzt hatte. Dabei hatte er so gründliche Arbeit geleistet, dass Jane Doe wieder beinahe unversehrt wirkte – eine Frau von Anfang zwanzig mit einem kleinen eintätowierten Herz zwischen der rasierten Vagina und dem Ende der Bikinizone.
Lena zählte die Schnittstellen: drei an jedem Bein sowie Bruchstellen oberhalb der Handgelenke, Ellenbogen und Schultergelenke.
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