Der Mann führte etwas anderes im Schilde.

»Ich fahre soeben los, Lieutenant.«

»Drücken Sie mal ein bisschen auf die Tube, Detective. Beeilung.«

Offenbar war das ein Vorgeschmack auf das zukünftige Arbeitsklima, sagte sich Lena. Klinger und seine Leute im fünften Stock würden ihr die ganze Zeit über die Schulter schauen. Am liebsten hätte sie entgegnet, dass in einer Mordermittlung kein Platz für Bürohengste und Besserwisser war. Verbrechen wurden mit dem Verstand rekonstruiert und auch damit aufgeklärt. Aber sie schwieg. Während sie lauschte, wie Klinger alles wiederholte, was Barrera ihr erst vor zehn Minuten erzählt hatte, wurde ihr klar, dass sie diesen Mann kaum kannte. Ihre Wege kreuzten sich nur selten. Klinger war etwa vierzig und seit fünfzehn Jahren bei der Polizei. Soweit Lena gehört hatte, hielt er sich für einen begabten Ermittler, obwohl er kaum praktische Erfahrung mit tatsächlichen Mordfällen besaß. Stattdessen hatte er den Großteil seiner beruflichen Laufbahn im Parker Center bei der Abteilung Interne Ermittlungen verbracht, die unter Polizeichef Logan im Dezernat für Qualitätskontrolle umbenannt worden war. Bei der gesamten Polizei gab es keinen einzigen Kollegen, der dieser Abteilung – ganz gleich, wie sie inzwischen auch heißen mochte – nicht von ganzem Herzen misstraute. Deshalb war Lena ebenso erstaunt gewesen wie alle anderen, als der Polizeipräsident bei seinem Amtsantritt Klinger zu seinem Assistenten ernannt hatte. Auch wenn der Polizeipräsident von auswärts stammte, musste ihm doch klar gewesen sein, dass er damit die Moral der Truppe aufs Spiel setzte. Ganz gleich, welche Talente Klinger auch haben mochte, war es kein kluger Schachzug gewesen.

Lena zwang sich, sich auf das Gespräch zu konzentrieren. Klinger hatte ihr gerade eine Frage gestellt, aber bis auf seinen herablassenden Tonfall war nichts bei ihr angekommen.

»Hören Sie mir überhaupt zu, Gamble?«

»Ja, Lieutenant.«

»Dann antworten Sie mir. Liegt Ihnen der Terminplan des Polizeichefs vor oder nicht?«

»Ich bin bestens gerüstet.«

»Dann wissen Sie ja, wo Sie uns finden können, ganz gleich, wie spät es ist. Und jetzt fahren Sie zum Tatort und melden sich so schnell wie möglich, Detective. Der Polizeipräsident behält Sie im Auge und möchte über jeden Schritt der Ermittlungen informiert werden. Ist das klar? Jeden Bericht. Jeden Hinweis.«

»Gibt es da etwas, das ich wissen sollte, Lieutenant?«

Er zögerte einen Moment, als hätte er nicht mit diesem Einwand gerechnet und läse nur von einem Drehbuch ab. »Jeder Fall ist wichtig«, entgegnete er schließlich. »Es ist eine Ermittlung wie alle anderen, Gamble.«

Lena verstand genau, was Klinger ihr sagen wollte, denn eigentlich entsprach es auch ihrer eigenen Auffassung. Allerdings schwang in seiner Stimme etwas mit, das sie argwöhnisch machte. Was wurde hier gespielt? Plötzlich hatte sie eine Idee, warum der Polizeipräsident diesem Fall solche Bedeutung beimaß.

Es war die Mordstatistik. Er wollte verhindern, dass die Anzahl der Fälle während seiner Dienstzeit die Fünfhundertermarke überschritt, weil das seinem guten Ruf geschadet hätte. Gestern hatten bis zu dieser magischen Grenze dreizehn Leichen gefehlt. Heute waren es nur noch zwölf.

Es ging nur um politische Eitelkeiten.

Der bloße Gedanke stieß sie so ab, dass sie am liebsten aufgelegt hätte. Diesen Leuten kam es nur auf Äußerlichkeiten an, nicht auf Menschen. Zahlen waren wichtiger als Menschenleben.