Der stand ganz nahe im Röhricht und kaute und sah sie an. Ansas sagte: »Sehr wild scheint der nicht zu sein, ich fahr' einfach auf ihn los.« Aber die Elske in ihrem Leibe, die wollte das nicht und machte einen heftigen Sprung. Und als sie ihm das sagte, da wußte er nicht, wie rasch er umkehren sollte.
An jenen Frühlingstag also muß sie denken, und dabei kommt mitten aus ihrer Ergebung der Jammer plötzlich über sie, so daß sie die gefalteten Hände vor die Stirn legt und dreimal weinend sagt: »O Gott, o Gott, o Gott!«
Dann sieht sie, daß er das Ruder festmacht und über die Großmastbank zu ihr herübersteigt.
»Worüber klagst du eigentlich?« hört sie ihn sagen.
Sie hebt die Augen zu ihm auf und sagt: »Ach Ansas, Ansas, weißt du nicht besser als ich, warum ich klage?«
Da dreht er sich auf seinen Hacken um und geht stumm zum Hinterende zurück.
Auf einer der entgegenfahrenden Triften spielt ein Dzimke die Harmonika.
Sie denkt: »Nun wird die Elske wohl nie mehr Klavier spielen lernen ... und der Willus wird auch niemals ein Pfarrer werden.« Denn das hat sie sich in ihrem Sinne vorgenommen, weil es ein gottgefälliges Werk ist.
Sie denkt weiter: »Ich werde es mir noch vorher von ihm versprechen lassen.« Aber wie kann sie wissen, wann das Schreckliche kommen wird, so daß sie noch Zeit behält zum Bitten? Jeden Augenblick kann es kommen, denn oft ist alles menschenleer – auch an den Ufern weit und breit.
»Was mag er nur in der Sackleinwand haben?« denkt sie weiter. »Da drin muß es sein, womit er das Schreckliche ausüben will. Aber was kann es sein?« Das Paket ist rund und halbmannslang und etwa wie ein Milcheimer so stark. Als er es vor der Abfahrt auf den Boden warf, ist kein Schall zu hören gewesen. Es muß also leicht sein von Gewicht.
»Das Beste ist,« denkt sie, »ich lasse es kommen, wie es kommt, und nutze die Zeit, um Frieden zu machen mit dem Herrn.«
Aber der Herr hat ihr den Frieden längst gesandt. Sie weiß kaum einmal, um was sie beten soll. Denn um die Rettung zu beten, ziemt ihr nicht. Da braucht sie ja nur zu schreien, wenn irgendein Floß kommt. Und so betet sie für die Kinder. Immer der Reihe nach und dann wieder von vorne.
Wie lange Zeit so verflossen ist, kann sie nicht sagen. Aber die Sonne steht schon ganz hoch, da hört sie von drüben seine Stimme: »Bring mir zu essen, ich hab' Hunger!«
Das Herz schlägt ihr plötzlich oben im Halse. »Jetzt wird es geschehen,« denkt sie. Aber wie sie ihm die Neunaugen und die Rauchwurst hinüberträgt und Brot und Butter dazu, da zittert sie nicht, denn jetzt denkt sie wieder: »Nein, so kann es nicht geschehen, er wird sich eine andere Art und Weise suchen.«
Und dann, wie er fragt: »Ißt du denn nichts?«, kommt ihr plötzlich der Gedanke: »Es wird gar nicht geschehen. Und nur mein trüber Sinn malt es mir aus.«
Aber sie braucht ihn nur anzusehen, wie er dasitzt, in sich zusammengekrochen und die Blicke irgendwohin ins Weite oder aufs Wasser gerichtet, bloß nicht auf sie, dann weiß sie: »Es wird doch geschehen.«
Mit einmal faßt sie sich ein Herz und fragt: »Was hast du da in der Sackleinwand?«
Er zieht finster den Mund in die Höhe und antwortet: »Meine Wasserstiefel.« Aber sie weiß, das das nicht wahr sein kann, denn deren Absätze sind eisenbeschlagen und hätten beim Hinschmeißen geklappert.
Dann packt sie die Speisen zusammen und geht nach dem Vorderende zurück.
Die Sonne sticht nun sehr, und sie muß ihr Kopftuch tief in die Augen ziehen.
Längst haben sie die arme Moorgegend verlassen, auch der schwarze Rand des Ibenhorstes ist untergesunken, und hinter dem Damm dehnt sich die fruchtbare Niederung, wo der Morgen tausend Mark kostet und die Bauern Rotwein auf dem Tische haben.
Die Klokener Fähre kommt, hinter der Kaukehmen liegt, der große, reiche Marktort, in dessen bestem Gasthaus nur studierte Leute aus und ein gehen dürfen. »Wenn der Willus Pfarrer sein wird, wird er dort auch aus und ein gehen dürfen. Aber der Willus wird ja nie Pfarrer sein. Wird etwa die Busze ihn auf die hohe Schule gehen lassen?«
Nun dauert es noch etwa eine Stunde, dann kommt die Stelle, an der die Gilge sich abzweigt. Sie sieht das blanke Gewässer nach rechts hin im Grünen verschwinden, fragt aber nichts.
Da kriegt der Ansas mit einemmal die Sprache wieder und sagt: »Du, Indre, von nun an heißt es nicht mehr der Rußstrom, jetzt ist es die Memel.«
Sie bedankt sich für die Belehrung, und dann wird es wieder still. So lange still, bis Ansas plötzlich den Arm hebt und ganz erfreut nach vorne zeigt.
Sie wendet sich um und fragt: »Was ist?«
»Was wird sein?« sagt er. »Tilsit wird sein.«
Sie sieht nicht nach Tilsit. Sie sieht bloß nach ihm. Er lacht übers ganze Gesicht, weil sie nun bald da sind.
»Es wird nicht geschehen,« denkt sie. »Der Mensch kann sich nicht freuen, der so Schreckliches mit sich herumträgt.«
Und dann wird er ganz ärgerlich, weil sie so gar keine Neugier zeigt.
»Da vorne bauen sie die große Eisenbahnbrücke,« sagt er, »und hinten steht auch Napoleons Kirchturm, aber du siehst dich nicht einmal um.«
Sie entschuldigt sich und läßt sich alles erklären. Und so kommen sie immer näher.
Die Mauerpfeiler, die aus dem Wasser wachsen, und die Eisengerüste hoch oben, die in der Luft hängen wie der Netzstiel beim Fischen – so was hat sie wirklich noch nie gesehen.
»Alles war Unsinn,« denkt sie. »Es wird nicht geschehen.«
Und dann kommen Holzplätze, so groß wie der Anckersche in Ruß, und Schornstein nach Schornstein, und dann die Stadt selber. Mit Wohnhäusern, noch höher als die Speicher in Memel. Denn Memel kennt sie.
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