Dorthin ist sie früher manchmal zum Markt mitgefahren und um die See zu sehen.
Napoleons Kirchturm hätte sie sich wunderbarer vorgestellt. Die acht Kugeln sind wirklich da, aber das Mauerwerk steht darauf, als ob es gar nicht anders sein könnte.
Ansas zieht die Segel ein und lenkt dem steinernen Ufer zu. Dort, wo er festmacht, liegen schon ein paar andere Fischerkähne, mit deren Besitzern er sich begrüßt. Es sind Leute aus Tawe und Inse, die ihren Fang am Morgen verkauft haben.
»Kommt ihr Wilwischker jetzt auch schon hierher,« sagt einer neidisch, »und verderbt uns die Preise?«
Ansas, der sich gerade die Wichsstiefel anzieht, antwortet ihm gar nicht. Für solche Gespräche ist er zu stolz.
Indre breitet das weiße Reisetuch über den vorderen Abschlag und setzt die Speisen darauf. Neben den Neunaugen und der Rauchwurst hat sie auch Soleier und selbstgeräucherten Lachs mit eingepackt. Und da sie seit halb vier in der Frühe nichts mehr gegessen hat, merkt sie jetzt, daß ihr schon längst vor Hunger ganz schwach ist.
Sie sitzen nun beide auf den Kanten des Bootes einander nahe gegenüber und essen das Mitgenommene als Mittagbrot. Geld, um in ein vornehmes Gasthaus zu gehen und sich auftafeln zu lassen vom Besten, hat Ansas wohl übergenug. Aber das ist nicht Fischergewohnheit.
Sie denkt nun gar nicht mehr an das Schreckliche, aber das Herz liegt ihr von all dem Fürchten noch wie ein Stein in der Brust.
Jetzt ist es der Ansas, der nicht viel essen kann, denn die Erwartung, ihr alles zu zeigen, läßt ihm keine Geduld. Er steht auf und sagt: »Nun kann es losgehen.« Aber vorher kehrt er noch nach hinten zurück, das Hängeschloß zu holen, damit der Kahn nicht etwa inzwischen verschwindet.
Dabei kommt er mit einem Fuß zufällig unter den runden Sack, der vor dem Steuersitz liegt. Der fliegt wie von selber hoch, so leicht ist er, und sinkt dann wieder zurück. Sie sieht, wie er dabei erschrickt und zu ihr herüberglupt, ob sie's auch nicht bemerkt hat. Und der Stein in ihrer Brust wird schwerer.
Aber wie sie das Ufer hinanschreiten und er ihr alles erklärt, denkt sie wieder: »Es kann nicht sein, es muß eine andere Bewandtnis haben.«
Dann biegen sie in die Deutsche Straße ein, die breit ist wie ein Strom und an ihren Rändern lauter Schlösser stehen hat. In den Schlössern kann man sich kaufen, was man will, und alles ist viel schöner und prächtiger als in Memel.
Der Ansas sagt: »Hier aber ist das Schönste,« und weist auf ein Schild, das die Aufschrift trägt: »Konditorei von Dekomin«.
Und da ein kaltes Mittagsbrot nie ganz satt macht, so beschließen sie auch sogleich hineinzugehen und die leeren Stellen im Magen aufzufüllen.
Und wie sie eintreten, o Gott, was sieht die Indre da! In einer langen, schmalen Stube, in der es kühl und halbdunkel ist, steht nicht weit von der Wand ein Tisch, der von einem Ende bis zum andern reicht und der ganz bedeckt ist mit Kuchen und Torten und sonstigen Süßigkeiten aller Art.
»Da wollen wir nun schwelgen,« sagt der Ansas und reckt sich.
Aber sie traut sich noch nicht, und er muß ihr die Stücke einzeln auf den Teller legen. Auch einen schönen Rosenlikör bestellt er. Der ist süß wie der Himmel und klebt an den Fingern, so daß man immerzu nachlecken muß.
»Darf ich auch den Kindern was mitbringen?« fragt sie.
»Nun, das versteht sich,« sagt er und lacht.
Da sticht ihr plötzlich der Gedanke ins Herz, daß sie die Kinder vielleicht niemals mehr sehen wird. Ganz abgeängstigt blickt sie ihn an – und siehe da! auch sein Gesicht hat sich verändert. Der Mund steht ihm offen, ganz hohl sind die Backen, und die Augen schielen an ihr vorbei.
»Es wird doch geschehen,« denkt sie und legt den Teelöffel hin, ißt auch nicht einen Bissen mehr; nur die Krumen, die rings um den Teller verstreut auf dem Steintisch liegen, wischt sie mit den Fingerspitzen auf und denkt dabei – – ja, was denkt sie? Nichts denkt sie. Und auch er sitzt da wie vor den Kopf geschlagen und redet kein Wort.
Also wird es doch geschehen!
Dann, wie er aufsteht, sagt er: »Nun laß dir einpacken.« Aber sie kann nicht. »Bring du es ihnen,« sagt sie, und er tritt an den Tisch und sucht aus. Aber er weiß nicht, was er aussucht, denn seine Augen gehen immer nach ihr zurück, als will er was sagen und traut sich nicht.
Dann, wie sie wieder auf die Straße hinaustreten, die von der Nachmittagssonne geheizt ist wie ein Backofen, gibt er sich einen Ruck und fängt von neuem mit dem Erklären an. Dies ist das und jenes ist das. Aber sie hört kaum mehr hin. Ganz benommen ist sie von neuer Angst. Die kommt und geht, wie die Haffwellen ans Ufer schlagen.
Dann stehen sie vor einem Kurzwarenladen, in dessen Schaufenster auch Kindersachen ausliegen. »Wir wollen 'reingehen,« sagt sie. »Du kannst den Kindern ein Andenken mitbringen.«
»Andenken? An wen?« fragt er und stottert dabei.
»An mich,« sagt sie und sieht ihn fest an.
Da wird er wieder rot, wendet die Augen ab und fragt nichts weiter.
Es wird also ganz sicher geschehen.
Sie sucht für den Endrik eine Wachstuchschürze mit roten Rändern, damit er sich nicht schmutzig macht, wenn er im Sand spielt; für die Elske eine blaue Kappe gegen die Sonne und für den kleinen Willus – was kann es viel sein? – ein Sabberschlabbchen, unter das Kinn zu binden. »Vielleicht werden doch noch einmal Pfarrerbäffchen daraus,« denkt sie und verbeißt ihre Tränen.
Der junge Mann, der die Sachen einwickelt, sagt zu Ansas gewandt: »Vielleicht haben Sie auch für die Frau Gemahlin einen Wunsch.«
Er steht verlegen und geschmeichelt, weil man die Indre eine »Frau Gemahlin« nennt, was von einer litauischen Fischersfrau wohl nicht häufig gesagt wird.
Und der junge Mann fährt fort: »Vielleicht darf ich auf unsere echten Schleiertücher aufmerksam machen, denn, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, das, welches die Frau Gemahlin augenblicklich trägt, ist etwas – durchgeschwitzt.«
Indre erschrickt und sucht einen Spiegel, denn noch hat sie nicht den Mut gehabt, sich irgendwo zu besehen. Und der junge Mann breitet eilig seine Gewebe aus. Die sind rein wie aus Spinnweben gemacht und haben Muster wie die schönsten Mullgardinen.
Ansas wählt das teuerste von allen – er getraut sich gar nicht, ihr zu sagen, wie teuer es ist –, und der junge Mann führt sie vor eine Wand, die ganz und gar ein Spiegel ist.
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