Sie lehnt den Kopf an seine Schulter und sagt immer schluchzend: »Mein Ansuttis, mein Ansaschen, bitte, bitte, tu mir nichts, tu mir nichts.«
Sie weiß, daß er ihr nun nichts mehr tun wird, aber sie kann nicht anders – sie muß immerzu bitten.
Er zittert am ganzen Leibe, hält ihre Hand fest und sagt einmal über das andere: »Was redest du da nur? Was redest du da nur?«
Sie sagt: »Noch ist es nicht gut. Ehe du es nicht gestehst, ist es noch nicht ganz gut.«
Er sagt: »Ich habe nichts zu gestehen.«
Und sie streichelt seinen Arm und sagt: »Du wirst es schon noch gestehen. Ich weiß, daß du es gestehen wirst.«
Er bleibt immer noch dabei, daß er nichts zu gestehen hat, und sie gibt sich zufrieden. Nur wenn sie daran denkt, daß daheim im Dorf die Busze sitzt und lauert, läuft es ihr ab und zu kalt über den Rücken.
Mit ineinandergelegten Händen gehen sie zu ihrem Tische zurück und kümmern sich nicht mehr um die Leute, die nicht satt werden können, ihnen nachzusehen.
Und weil nun ringsum die Kaffeetassen verschwunden sind und statt ihrer Biergläser stehen, bestellt sich Ansas auch was bei dem feinen Herrn – aber kein Bier bestellt er, sondern eine Flasche süßen Muskatwein, wie ihn die Litauer lieben.
Und beide trinken und sehen sich an, bis Indre sich ein Herz faßt und ihn fragt: »Mein Ansaschen, was heißt das – eine Madonna?«
»So nennt man die katholische heilige Jungfrau,« sagt er.
Sie zieht die Lippen hoch und sagt verächtlich: »Wenn's weiter nichts ist.« Denn die Neidischen, die sie ärgern wollten, haben sie schon als Mädchen so genannt, und sie ist doch stets eine fromme Lutheranerin gewesen.
Und sie trinken immer noch mehr, und Indre fühlt, daß sie rote Backen bekommt, und weiß sich vor Fröhlichkeit gar nicht zu lassen.
Da plötzlich fällt dem Ansas ein: »O Gott – die Eisenbahn! Und die Uhr ist gleich sechs!«
Er ruft den feinen Herrn herbei und bezahlt mit zwei harten Talern. Dann fragt er nach dem kürzesten Weg zum Bahnhof. Aber wie sie nun dorthin laufen wollen, ergibt es sich, daß sie nicht mehr ganz gerade stehen können.
Die Leute lachen hinter ihnen her, und die Dame am Nebentisch sagt bedauernd: »Daß diese Litauer sich doch immer betrinken müssen.«
Hätte sie gewußt, was hier gefeiert wird, so hätte sie's wohl nicht gesagt.
Die Straße zum Bahnhof führt ziemlich nah an den Schienen entlang. Sie laufen und lachen und laufen.
Da mit einmal macht es irgendwo: »Puff, puff, puff.«
O Gott – was für ein Ungeheuer kommt dort an! Und geradeswegs auf sie zu.
Indre kriegt den Ansas am Ärmel zu packen und fragt: »Ist sie das?«
Ja, das ist sie.
Wie kann es bloß so viel Scheußlichkeit geben! Der Pukys mit dem feurigen Schweif und der andere Drache, der Atwars, sind gar nichts dagegen. Sie schreit und hält sich die Augen zu und weiß nicht, ob sie weiterlachen oder noch einmal losweinen soll. Aber da der Ansas sie beschützt, entscheidet sie sich fürs Lachen und nimmt die Schürze vom Gesicht und macht: »Puff, puff.« Genau so kindisch, wie die Elske machen würde, wenn sie den Drachen sähe, mit dem die Leute spazieren fahren.
»Wohin fahren sie?« fragt sie dann, als die letzten Wagen vorbei sind.
Und Ansas belehrt sie: »Zuerst nach Insterburg und dann nach Königsberg und dann immer weiter bis nach Berlin.«
»Wollen wir nicht auch nach Berlin fahren?« bittet sie.
»Wenn alles geordnet ist,« sagt er, »dann wollen wir nach Berlin fahren und den Kaiser sehen.« Dabei wird er mit einmal steinernst, als ob er ein Gelübde tut.
O Gott, wie ist das Leben schön!
Und das Leben wird immer noch schöner.
Wie sie auf dem Wege zur inneren Stadt an dem »Anger« vorbeikommen, jenem großen, häuserbestandenen Sandplatz, auf dem die Vieh- und Pferdemärkte abgehalten werden, da hören sie aus dem Gebüsch, das den einrahmenden Spazierweg umgibt, lustiges Leierkastengedudel und sehen den Glanz von Purpur und von Flittern durch die Zweige schimmern.
Nun möchte ich den Litauer kennen lernen, der an einem Karussell vorbeigeht, ohne begierig stehen zu bleiben.
Die Sonne ist zwar bald hinter den Häusern, und morgen früh will Ansas beim Kuhfüttern sein, aber was kann der kleine Umweg viel schaden, da man ja sowieso an vierzehn Stunden kreuzen muß.
Und wie sie das runde, samtbehangene Tempelchen vor sich sehen, dessen Prunksessel und Schlittensitze nur auf sie zu warten scheinen, da weist Ansas mit einemmal fast erschrocken nach dem Leinwanddache, auf dessen Spitze ein goldener Wimpel weht.
Sie weiß nicht, was sie da kucken soll.
Er vergleicht den Wimpel mit den Wetterfahnen rings auf den Dächern. Es stimmt! Der Wind ist nach Süden umgeschlagen – und das Kreuzen unnötig geworden. In sieben Stunden kann der Kahn zu Hause sein.
Also 'rauf auf die Pferde! Die Indre wehrt sich wohl ein bißchen – eine Mutter von drei Kindern, wo schickt sich das? Aber in Tilsit kennt sie ja keiner. Also, fix, fix 'rauf auf die Pferde, sonst geht's am Ende noch los ohne sie beide.
Und sie reiten und fahren und reiten wieder, und dann fahren sie noch einmal und noch einmal, weil sie zum Reiten schon lange zu schwindlig sind. Die ganze Welt ist längst eine große Drehscheibe geworden, und der Himmel jagt rückwärts als ein feuriger Kreisel um sie herum. Aber sie fahren noch immer und singen dazu:
»Tilschen, mein Tilschen, wie schön bist du doch!
Ich liebe dich heute wie einst!
Die Sonne wär' nichts wie ein finsteres Loch,
Wenn du sie nicht manchmal bescheinst.«
Und die umstehenden Kinder, die schon dreimal Freifahrt gehabt haben, singen dankbar mit, obwohl sie Text und Weise nicht begreifen können.
Aber schließlich wird der Indre übel. Sie muß ein Ende machen, ob sie will oder nicht. Und nun stehen sie beide lachend und betäubt unter den johlenden Kindern und streuen in die ausgestreckten Hände die Krümel der Konditorkuchen, die sie aus Versehen längst plattgesessen haben.
Ja, so schön kann das Leben sein, wenn man sich liebt und Karussell dazu fährt!
Dann nehmen sie Abschied von den Kindern und den Kindermädchen, von denen etliche sie noch ein Ende begleiten. Um ihnen den Weg zu zeigen, sagen sie, aber in Wahrheit wollen sie bei Gelegenheit noch ein Stück Kuchen erraffen. Und sie hätten auch richtig was gekriegt, wenn sie bis zur Dekominschen Konditorei ausgehalten hätten. Aber die liegt ja, wie wir wissen, am andern Ende der Stadt.
Daselbst lassen sie beide sich noch einmal ein schönes Paket zurechtmachen, aber diesmal sucht die Indre aus. Der Ansas bestellt derweilen noch zwei Gläschen von dem klebrigen Rosenlikör und nimmt zur Sicherheit für vorkommende Fälle gleich die ganze Flasche mit.
Wie sie zu ihrem Kahn hinabsteigen, ist die Sonne längst untergegangen. Aber das macht nichts, denn der Südwind hält fest, und der Mond steht schon bereit, um ihnen zu leuchten.
Unter solchen Umständen ist ja die Fahrt ein Kinderspiel.
Ansas schöpft mit der Pilte das Wasser aus, damit die Bodenbretter hübsch trocken sind, wenn die Indre sich etwa langlegen will. Aber sie will nicht. Sie setzt sich auf ihren alten Platz vorn auf die Paragge, damit sie dem Ansas zusehen und sich im stillen an ihm freuen kann.
Und dann geht es los.
Die Ufer werden dunkler, und eine große Stille breitet sich aus. Sie muß immerzu daran denken, in welcher Angsthaftigkeit das Herz sie drückte, als sie vor acht Stunden desselben Weges fuhr, und wie leicht sie jetzt Atem holen kann.
Sie möchte am liebsten ein Dankgebet sprechen, aber sie will es nicht allein tun, denn er gehört ja wieder zu ihr ... und nötig hat er es auch.
Aber er hat jetzt nur Blick für Segel und Steuer, denn die Brückenpfeiler sind da und viele Kähne, die auf beiden Seiten vor Anker liegen.
Manchmal nickt er ihr freundlich zu. Das ist alles.
Alsdann breitet sich der Strom, und der Mond fängt zu scheinen an. Die Wellchen sind ganz silbern in der Richtung auf ihn zu und setzen sich und fliegen auf wie kleine weiße Vögelchen.
Sie kann den Ansas gut erkennen, er sie aber nicht, denn der Mond steht hinter ihr. Darum sagt er auch plötzlich: »Warum sitzt du so weit von mir weg?«
»Ich sitze da, wo ich auf der Hinfahrt gesessen hab',« sagt sie.
»Hinfahrt und Rückfahrt sind so verschieden wie Tag und Nacht,« sagt er.
Und sie denkt: »Bloß daß jetzt Tag ist und damals Nacht war.«
»Darum komm herüber und setz dich neben mich,« sagt er.
Ach, wie gerne sie das tut!
Aber als sie ihm näher kommt, da fällt ihr Blick auf die Sackleinwand, die zwischen seinen Füßen liegt und die sie bisher nicht bemerkt hat.
Wie sie die wiedersieht, wird ihr ganz schlecht. Sie sinkt auf die Mittelbank nieder und lehnt ihren Rücken gegen den Mast.
»Warum kommst du nicht?« fragt er fast unwirsch.
Nun weiß sie nicht, was sie tun soll. Soll sie ihn fragen, soll sie's mit Stillschweigen übergehen? Aber das weiß sie: Dorthin, wo prall und rund der Sack liegt, um dessen Inhalt er sie belügt, dorthin kann sie die Füße nicht setzen.
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