Ich habe nicht Ursache, Rücksicht auf dich zu nehmen! Wenn du alles in Bewegung setzst, um keine Geschwister neben dir zu haben, so ist das für mich ein Grund mehr, mir andere Kinder zu erziehen.

ALWA

Du bist ein schlechter Menschenkenner.

LULU

Geben Sie doch selber ein Extrablatt aus.

SCHÖN (im Ton der heftigsten Empörung)

Er hatte kein moralisches Gewissen! (Indem er plötzlich seine Fassung wiedergewinnt.) Paris revolutioniert –?

ALWA

Unsere Redakteure sind wie vom Schlag getroffen. Alles stockt.

SCHÖN

Das muss mir darüber hinweghelfen! – Wenn nun nur die Polizei käme. Die Minuten sind nicht mit Gold zu bezahlen.

(Es läutet auf dem Korridor.)

ALWA

Da sind sie …

SCHÖN

(will zur Tür).

LULU (aufspringend)

Warten Sie, Sie haben Blut.

SCHÖN

Wo …?

LULU

Warten Sie, ich wische es weg. (Besprengt ihr Taschentuch mit Heliotrop und wischt Schön das Blut von der Hand.)

SCHÖN

Es ist deines Gatten Blut.

LULU

Es lässt keine Flecken.

SCHÖN

Ungeheuer!

LULU

Sie heiraten mich ja doch.

(Es läutet auf dem Korridor.)

LULU

Nur Geduld, Kinder.

SCHÖN

(rechts hinten ab).

Siebenter Auftritt

ESCHERICH. DIE VORIGEN.

ESCHERICH (von Schön hereingeleitet, atemlos)

Erlauben Sie, dass ich – dass ich mich Ihnen – Ihnen vorstelle …

SCHÖN

Sie sind gelaufen?

ESCHERICH (seine Karte überreichend)

Von der Polizeidirektion her. Ein Selbstmord, hör’ ich.

SCHÖN (liest)

Fritz Escherich, Korrespondent der »Kleinen Neuigkeiten«. – Kommen Sie.

ESCHERICH

Einen Moment. (Nimmt Notizbuch und Bleistift vor, sieht sich im Salon um, schreibt einige Worte, verbeugt sich gegen Lulu, schreibt, wendet sich zu der erbrochenen Tür, schreibt.) Ein Küchenbeil … (Will es aufheben.)

SCHÖN (ihn zurückhaltend)

Bitte.

ESCHERICH (schreibt)

Tür aufgebrochen mit Küchenbeil.

(Untersucht das Schloss.)

SCHÖN (die Hand an der Tür)

Sehen Sie sich vor, mein Lieber.

ESCHERICH

Wenn Sie jetzt die Liebenswürdigkeit haben wollen, die Tür zu öffnen.

SCHÖN

(öffnet die Tür).

ESCHERICH (lässt Buch und Bleistift fallen, fährt sich in die Haare)

O du barmherziger Himmel noch mal …!

SCHÖN

Sehen Sie sich alles genau an!

ESCHERICH

Ich kann nicht hinsehen.

SCHÖN (ihn höhnisch anschnauzend)

Wozu sind Sie denn hergekommen!

ESCHERICH

Sich mit dem – Ra-Rasiermesser – den Ha-Hals abschneiden …

SCHÖN

Haben Sie alles gesehen?

ESCHERICH

Das muss ein Gefühl sein!

SCHÖN (zieht die Tür zu, tritt zum Schreibtisch)

Setzen Sie sich. Hier ist Papier und Feder. Schreiben Sie.

ESCHERICH (der mechanisch Platz genommen)

Ich kann nicht schreiben …

SCHÖN (hinter seinem Stuhl stehend)

Schreiben Sie! – Verfolgungswahn …

ESCHERICH (schreibt)

Ver-fol-gungs-wahn …

(Es läutet auf dem Korridor.)

Dritter Aufzug

Garderobe im Theater, mit rotem Tuch ausgeschlagen. Links hinten die Tür. Rechts hinten eine spanische Wand. In der Mitte, mit der Schmalseite gegen den Zuschauer, ein langer Tisch, auf dem Tanzkostüme liegen. Rechts und links vom Tisch je ein Sessel. Links vorn Tischchen mit Sessel. Rechts vorn ein hoher Spiegel, daneben ein hoher, sehr breiter, altmodischer Armsessel. Vor dem Spiegel ein Puff, Schminkschatulle usw. usw.

Erster Auftritt

LULU. ALWA. Gleich darauf SCHÖN.

ALWA (links vorn, füllt zwei Gläser mit Champagner und Rotwein)

Seit ich für die Bühne arbeite, habe ich kein Publikum so außer Rand und Band gesehen.

LULU (unsichtbar, hinter der spanischen Wand)

Geben Sie mir nicht zu viel Rotwein. – Sieht er mich heute?

ALWA

Mein Vater?

LULU

Ja.

ALWA

Ich weiß nicht, ob er im Theater ist.

LULU

Er will mich wohl gar nicht sehen?

ALWA

Er hat so wenig Zeit.

LULU

Seine Braut nimmt ihn in Anspruch.

ALWA

Spekulationen. Er gönnt sich keine Ruhe. – (Da Schön eintritt.) Du? Eben sprechen wir von dir.

LULU

Ist er da?

SCHÖN

Du ziehst dich um?

LULU (über die spanische Wand wegsehend, zu Schön)

Sie schreiben in allen Zeitungen, ich sei die geistvollste Tänzerin, die je die Bühne betreten, ich sei eine zweite Taglioni und was weiß ich, und Sie finden mich nicht einmal geistvoll genug, um sich davon zu überzeugen!

SCHÖN

Ich habe so viel zu schreiben. Du siehst, dass ich recht hatte. Es waren kaum mehr Plätze zu haben. – Du musst dich etwas mehr im Proszenium halten!

LULU

Ich muss mich erst an das Licht gewöhnen.

ALWA

Sie hat sich strikte an ihre Rolle gehalten.

SCHÖN (zu Alwa)

Du musst deine Darsteller besser ausnützen! Du verstehst dich noch nicht genug auf die Technik. (Zu Lulu.) Als was kommst du jetzt?

LULU

Als Blumenmädchen …

SCHÖN (zu Alwa)

In Trikots?

ALWA

Nein. In fußfreiem Kleid.

SCHÖN

Du hättest dich lieber nicht mit dem Symbolismus einlassen sollen!

ALWA

Ich sehe der Tänzerin auf die Füße.

SCHÖN

Es kommt darauf an, worauf das Publikum sieht! Eine Erscheinung wie sie hat deine symbolistischen Hanswurstiaden gottlob nicht nötig.

ALWA

Das Publikum sieht nicht danach aus, als ob es sich langweilte!

SCHÖN

Natürlich! Weil ich in der Presse seit sechs Monaten auf ihren Erfolg hingearbeitet habe. – War der Prinz hier?

ALWA

Es war niemand hier.

SCHÖN

Wer wird eine Tänzerin zwei Akte hindurch in Regenmänteln auftreten lassen!

ALWA

Wer ist denn der Prinz?

SCHÖN

 – Wir sehen uns noch?

ALWA

Bist du allein?

SCHÖN

Mit Bekannten. – Bei Peters?

ALWA

Um zwölf?

SCHÖN

Um zwölf. (Ab.)

LULU

Ich hatte schon daran verzweifelt, dass er je kommen werde!

ALWA

Lassen Sie sich durch seine griesgrämigen Nörgeleien nicht beirren. Wenn Sie nur ja darauf achten wollen, dass Sie Ihre Kräfte nicht vor Beginn der letzten Nummer vergeuden.

LULU

(tritt hinter der spanischen Wand vor in antikem, fußfreiem, ärmellosem weißem Kleid mit rotem Saum, einen bunten Kranz im Haar, einen Korb voll Blumen in den Händen).

LULU

Er scheint es gar nicht gemerkt zu haben, wie geschickt Sie Ihre Darsteller ausnützen!

ALWA

Ich werde doch im ersten Akt nicht Sonne, Mond und Sterne verpaffen.

LULU (das Glas an den Lippen)

Sie enthüllen mich gradatim.

ALWA

Ich wusste doch, dass Sie sich darauf verstehen, Kostüme zu wechseln.

LULU

Hätte ich meine Blumen so vor dem Alhambra-Café verkaufen wollen, man hätte mich schon gleich in der ersten Nacht hinter Schloss und Riegel gesetzt.

ALWA

Warum denn!? Sie waren ein Kind!

LULU

Wissen Sie noch, wie ich zum ersten Mal in Ihr Zimmer trat?

ALWA (nickt)

Sie trugen ein dunkelblaues Kleid mit schwarzem Samt.

LULU

Man musste mich verstecken und wusste nicht wo.

ALWA

Meine Mutter lag damals schon seit zwei Jahren auf dem Krankenbett …

LULU

Sie spielten Theater und fragten mich, ob ich mitspielen wolle.

ALWA

Gewiss! Wir spielten Theater!

LULU

Ich sehe Sie noch, wie Sie die Figuren hin und her schoben.

ALWA

Es war mir noch lange die entsetzlichste Erinnerung, wie ich mit einemmal klar in die Verhältnisse sah.

LULU

Da wurden Sie eisig gemessen gegen mich.

ALWA

Ach Gott – ich sah etwas so unendlich hoch über mir Stehendes in Ihnen. Ich hegte vielleicht eine höhere Verehrung für Sie als für meine Mutter. Denken Sie, als meine Mutter starb – ich war siebzehn Jahre alt –, da trat ich vor meinen Vater und forderte ihn auf, dass er Sie augenblicklich zu seiner Frau mache, sonst müssten wir uns duellieren.

LULU

Das hat er mir damals erzählt.

ALWA

Seit ich älter bin, kann ich ihn nur noch bemitleiden. Er wird mich nie begreifen. Da phantasiert er sich eine kleine Diplomatie zusammen, die mich dazu bestimmen soll, seiner Verheiratung mit der Komtesse entgegenzuarbeiten.

LULU

Blickt sie denn immer noch so unschuldig in die Welt hinaus?

ALWA

Sie liebt ihn; das ist meine Überzeugung.