Ihre Familie hat alles in Bewegung gesetzt, um sie zum Rücktritt zu veranlassen. Ich glaube nicht, dass ihr ein Opfer auf dieser Welt zu groß wäre um seinetwillen.
LULU (hält ihm ihr Glas hin)
Noch etwas, bitte.
ALWA (ihr einschenkend)
Sie trinken zu viel.
LULU
Er soll an meinen Erfolg glauben lernen! Er glaubt an keine Kunst. Er glaubt nur an Zeitungen.
ALWA
Er glaubt an nichts.
LULU
Er hat mich ans Theater gebracht, damit sich eventuell jemand findet, der reich genug ist, um mich zu heiraten.
ALWA
Nun ja! Was braucht uns das zu kümmern!
LULU
Mich soll es freuen, wenn ich mich in das Herz eines Millionärs hineintanzen kann.
ALWA
Gott verhüte, dass man Sie uns entführt!
LULU
Sie haben doch die Musik dazu komponiert.
ALWA
Sie wissen, dass es immer mein Wunsch war, ein Stück für Sie zu schreiben.
LULU
Ich bin aber gar nicht für die Bühne geschaffen.
ALWA
Sie sind als Tänzerin auf die Welt gekommen.
LULU
Warum schreiben Sie Ihre Stücke denn nicht wenigstens so interessant, wie das Leben ist?
ALWA
Weil uns das kein Mensch glauben würde.
LULU
Wenn ich mich nicht besser aufs Theaterspielen verstände, als man auf der Bühne spielt, was hätte aus mir werden wollen.
ALWA
Ich habe Ihre Rolle doch mit allen erdenklichen Unmöglichkeiten ausgestattet.
LULU
Mit solchem Hokuspokus lockt man in der Wirklichkeit noch keinen Hund vom Ofen.
ALWA
Mir ist es genug, dass sich das Publikum in die wahnsinnigste Aufregung versetzt sieht.
LULU
Ich möchte mich aber gern selbst in die wahnsinnigste Aufregung versetzt sehen! (Trinkt.)
ALWA
Dazu scheint Ihnen auch nicht viel mehr zu fehlen.
LULU
Wie können Sie sich darüber wundern, da mein Auftreten doch einen höheren Zweck hat! Es gehen schon einige da unten ganz ernstlich mit sich zu Rate. – Ich fühle das, ohne dass ich hinsehe.
ALWA
Wie fühlen Sie denn das?
LULU
Keiner ahnt was vom andern. Jeder meint, er sei allein das unglückliche Opfer.
ALWA
Wie können Sie denn das fühlen?
LULU
Es läuft einem so ein eisiger Schauer am Körper herauf.
ALWA
Sie sind unglaublich …
(Eine elektrische Klingel tönt über der Tür.)
LULU
Mein Tuch … Ich werde mich im Proszenium halten!
ALWA (ihr einen breiten Schal über die Schultern legend)
Hier ist Ihr Tuch.
LULU
Er soll nichts mehr für seine schamlose Reklame zu fürchten haben.
ALWA
Wahren Sie Ihre Selbstbeherrschung!
LULU
Gebe Gott, dass ich einem den letzten Funken Verstand zum Kopf hinaustanze. (Ab.)
Zweiter Auftritt
ALWA (allein)
Über die ließe sich freilich ein interessanteres Stück schreiben. (Setzt sich links, nimmt sein Notizbuch vor und notiert. Aufblickend.) Erster Akt: Dr. Goll. Schon faul! Ich kann den Dr. Goll aus dem Fegefeuer zitieren, oder wo er seine Orgien büßt, man wird mich für seine Sünden verantwortlich machen. – (Langanhaltendes, stark gedämpftes Klatschen und Bravorufen wird von außen hörbar.) – Das tobt, wie in der Menagerie, wenn das Futter vor dem Käfig erscheint. – Zweiter Akt: Walter Schwarz. Noch unmöglicher! Wie die Seelen die letzte Hülle abstreifen im Licht solcher Blitzschläge! – Dritter Akt? – Sollte es wirklich so fortgehen?! –
(Die Garderobiere öffnet von außen und lässt ESCERNY eintreten.)
Dritter Auftritt
ESCERNY. ALWA.
ESCERNY
(tut, als ob er zu Hause wäre, und nimmt, ohne Alwa zu beachten, rechts neben dem Spiegel Platz).
ALWA (links sitzend, ohne auf Escerny zu achten)
Es kann im dritten Akt nicht so fortgehen!
ESCERNY
Bis zur Mitte des dritten Aktes schien es heute nicht so gut zu gehen wie sonst.
ALWA
Ich war nicht auf der Bühne.
ESCERNY
Jetzt ist sie wieder in vollem Zug.
ALWA
– Sie zieht die Nummer in die Länge.
ESCERNY
Ich hatte bei Herrn Dr. Schön einmal das Vergnügen, der Künstlerin zu begegnen.
ALWA
Mein Vater hat sie durch einige Besprechungen in seiner Zeitung beim Publikum eingeführt.
ESCERNY (sich leicht verneigend)
Ich konferierte mit Herrn Dr. Schön der Herausgabe meiner Forschungen am Tanganjika-See wegen.
ALWA (sich leicht verneigend)
Seine Äußerungen lassen keinen Zweifel darüber, dass er das lebhafteste Interesse an Ihrem Werk nimmt.
ESCERNY
Wohltuend berührt es an der Künstlerin, dass das Publikum für sie gar nicht vorhanden ist.
ALWA
Das Sichumkleiden hat sie schon als Kind gelernt. Aber ich war überrascht, eine so bedeutende Tänzerin in ihr zu entdecken.
ESCERNY
Wenn sie ihr Solo tanzt, berauscht sie sich an ihrer eigenen Schönheit – in die sie selber zum Sterben verliebt zu sein scheint.
ALWA
Da kommt sie. (Erhebt sich, öffnet die Tür.)
Vierter Auftritt
LULU. DIE VORIGEN.
LULU (ohne Kranz und Blumenkorb, zu Alwa)
Sie werden herausgerufen. Ich war dreimal vor dem Vorhang. (Zu Escerny.) Herr Dr. Schön ist nicht in Ihrer Loge?
ESCERNY
In meiner Loge nicht.
ALWA (zu Lulu)
Haben Sie ihn nicht gesehen?
LULU
Er wird wieder fort sein.
ESCERNY
Er hat die letzte Parkettloge links.
LULU
Er scheint sich meiner zu schämen!
ALWA
Er hat keinen guten Platz mehr bekommen.
LULU (zu Alwa)
Fragen Sie ihn doch, ob ich ihm jetzt besser gefallen habe.
ALWA
Ich werde ihn heraufschicken.
ESCERNY
Er hat applaudiert.
LULU
Hat er das wirklich?
ALWA
Gönnen Sie sich etwas Ruhe. (Ab.)
Fünfter Auftritt
LULU. ESCERNY.
LULU
Ich muss mich ja wieder umziehen.
ESCERNY
Aber Ihre Garderobiere ist ja nicht hier?
LULU
Ich kann das rascher allein. Wo sagten Sie, dass Dr. Schön sitzt?
ESCERNY
Ich sah ihn in der hintersten Parkettloge links.
LULU
Jetzt habe ich noch fünf Kostüme vor mir: Dancinggirl, Ballerina, Königin der Nacht, Ariel und Lascaris … (Tritt hinter die spanische Wand zurück.)
ESCERNY
Würden Sie es für möglich halten, dass ich bei unserem ersten Renkontre nicht anders gewärtig war, als mit einer jungen Dame aus der literarischen Welt bekannt zu werden? – – – (Setzt sich rechts neben den Mitteltisch, wo er bis zum Schluss der Szene sitzen bleibt.) Sollte ich mich in der Beurteilung Ihrer Natur irren, oder habe ich das Lächeln, das die dröhnenden Beifallsstürme auf Ihren Lippen hervorrufen, richtig gedeutet? – –: dass Sie unter der Notwendigkeit, Ihre Kunst vor Leuten von zweifelhaften Interessen entwürdigen zu müssen, innerlich leiden? – – – (Da Lulu nicht antwortet.) Dass Sie den Schimmer der Öffentlichkeit jeden Augenblick für ein ruhiges, sonniges Glück in vornehmer Abgeschlossenheit eintauschen würden? – (Da Lulu nicht antwortet.) Dass Sie Hoheit und Würde genug in sich fühlen, einen Mann zu Ihren Füßen zu fesseln – um sich an seiner vollkommenen Hilflosigkeit zu erfreuen? – – – (Da Lulu nicht antwortet.) Dass Sie sich an einem würdigeren Platz als hier in einer mit reichlichem Komfort ausgestatteten Villa fühlen würden – bei unbegrenzten Mitteln – um durchaus als Ihre eigene Herrin zu leben?
LULU (in kurzem hellem Plisseeunterrock und weißem Atlaskorsett, schwarzen Schuhen und Strümpfen, Schellensporen unter den Absätzen, tritt hinter der spanischen Wand vor, mit dem Schnüren ihres Korsetts beschäftigt)
Wenn ich nur einen Abend mal nicht auftrete, dann träume ich die ganze Nacht hindurch, dass ich tanze, und fühle mich am folgenden Tag wie gerädert …
ESCERNY
Aber was könnte es Ihnen dabei ausmachen, statt dieses Pöbels nur einen Zuschauer, einen Auserwählten, vor sich zu sehen?
LULU
Das könnte mir gleichgültig sein. Ich sehe ja doch niemanden.
ESCERNY
Ein erleuchteter Gartensaal – das Plätschern vom See herauf … Ich bin auf meinen Forschungsreisen nämlich zur Ausübung eines ganz unmenschlichen Despotismus gezwungen …
LULU (vor dem Spiegel, sich eine Perlenkette um den Hals legend)
Eine gute Schule!
ESCERNY
Wenn ich mich jetzt danach sehne, mich ohne irgendwelchen Vorbehalt der Gewalt einer Frau zu überliefern, so ist das ein natürliches Bedürfnis nach Abspannung … Können Sie sich ein höheres Lebensglück für eine Frau denken, als einen Mann vollkommen in ihrer Gewalt zu haben?
LULU (mit den Absätzen klirrend)
O ja!
ESCERNY (verwirrt)
Unter gebildeten Menschen finden Sie nicht einen, der Ihnen gegenüber nicht den Kopf verliert.
LULU
Ihre Wünsche erfüllt Ihnen aber niemand, ohne Sie dabei zu hintergehen.
ESCERNY
Von einem Mädchen wie Sie betrogen zu werden, muss noch zehnmal beglückender sein, als von jemand anders aufrichtig geliebt zu werden.
LULU
Sie sind in Ihrem Leben noch von keinem Mädchen aufrichtig geliebt worden! (Sich rücklings gegen ihn stellend, auf ihr Korsett deutend.) Würden Sie mir den Knoten auflösen. Ich habe mich zu fest geschnürt. Ich bin immer so aufgeregt beim Ankleiden.
ESCERNY (nach wiederholtem Versuch)
Ich bedaure; ich kann es nicht.
LULU
Dann lassen Sie. Vielleicht kann ich es. (Geht nach rechts.)
ESCERNY
Ich gestehe ein, dass es mir an Geschicklichkeit gebricht. Ich war vielleicht im Verkehr mit Frauen nicht gelehrig genug.
LULU
Dazu haben Sie in Afrika wohl auch nicht viel Gelegenheit?
ESCERNY (ernst)
Lassen Sie mich Ihnen offen gestehen, dass mir meine Vereinsamung in der Welt manche Stunde verbittert.
LULU
Gleich ist der Knoten auf …
ESCERNY
Was mich zu Ihnen hinzieht, ist nicht Ihr Tanz. Es ist Ihre körperliche und seelische Vornehmheit, wie sie sich in jeder Ihrer Bewegungen offenbart. Wer sich so sehr wie ich für Kunstwerke interessiert, kann sich darin nicht täuschen. Ich habe während zehn Abenden Ihr Seelenleben aus Ihrem Tanze studiert, bis ich heute, als Sie als Blumenmädchen auftraten, vollkommen mit mir ins Klare kam. Sie sind eine großangelegte Natur – uneigennützig. Sie können niemanden leiden sehen. Sie sind das verkörperte Lebensglück.
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