Wie kommen Sie auf die Frage? Ist Ihnen denn so kalt?
SCHWARZ
Heute nicht. Nein.
LULU
Gottlob kann man atmen!
SCHWARZ
Wieso …
LULU
(atmet tief ein).
SCHWARZ
Lassen Sie das, bitte! – (Springt auf, wirft Pinsel und Palette weg, geht auf und nieder.) Der Stiefelputzer hat es wenigstens nur mit ihren Füßen zu tun. Seine Farbe frißt ihm auch nicht ins Geld. Wenn mir morgen das Abendbrot fehlt, fragt mich kein Weltdämchen danach, ob ich mich aufs Austernschlecken verstehe.
LULU
Ist das ein Unhold!
SCHWARZ (nimmt die Arbeit wieder auf)
Was jagt den Kerl auch in diese Probe!
LULU
Mir wäre es auch lieber, er wäre dageblieben.
SCHWARZ
Wir sind wirklich die Märtyrer unseres Berufes!
LULU
Ich wollte Ihnen nicht weh tun.
SCHWARZ (zögernd, zu Lulu)
Wenn Sie links – das Beinkleid – ein wenig höher …
LULU
Hier?
SCHWARZ (tritt zum Podium)
Erlauben Sie …
LULU
Was wollen Sie?
SCHWARZ
Ich zeige es Ihnen.
LULU
Es geht nicht.
SCHWARZ
Sie sind nervös … (Will ihre Hand fassen.)
LULU (wirft ihm den Schäferstab ins Gesicht)
Lassen Sie mich in Ruhe! (Eilt zur Entreetür.) Sie bekommen mich noch lange nicht.
SCHWARZ
Sie verstehen keinen Scherz.
LULU
Doch, ich verstehe alles. Lassen Sie mich nur frei. Mit Gewalt erreichen Sie gar nichts bei mir. Gehen Sie an Ihre Arbeit. Sie haben kein Recht, mich zu belästigen. (Flüchtet hinter die Ottomane.) Setzen Sie sich hinter Ihre Staffelei.
SCHWARZ (will um die Ottomane)
Sobald ich Sie für Ihre Launenhaftigkeit bestraft habe.
LULU (ausweichend)
Dazu müssen Sie mich aber erst haben. Gehen Sie, Sie erwischen mich doch nicht. – In langen Kleidern wäre ich Ihnen längst in die Hände gefallen. – Aber in dem Pierrot!
SCHWARZ (sich der Länge nach über die Ottomane werfend)
Habe ich dich!
LULU (schlägt ihm das Tigerfell über den Kopf)
Gute Nacht! (Springt über das Podium, klettert auf die Trittleiter.) Ich sehe über alle Städte der Erde weg …
SCHWARZ (sich aus der Decke wickelnd)
Dieser Balg!
LULU
Ich greife in den Himmel und stecke mir die Sterne ins Haar.
SCHWARZ (ihr nachkletternd)
Ich schüttle, bis Sie herunterfallen.
LULU (höher steigend)
Wenn Sie nicht aufhören, werfe ich die Leiter um. Werden Sie meine Beine loslassen. – Gott schütze Polen! (Bringt die Leiter zu Fall, springt auf das Podium und wirft Schwarz, wie er sich vom Boden aufrafft, die spanische Wand an den Kopf. Nach vorn eilend, an den Staffeleien.) Ich habe Ihnen ja gesagt, dass Sie mich nicht bekommen.
SCHWARZ (nach vorn kommend)
Lassen Sie uns Frieden schließen. (Will sie umfassen.)
LULU
Bleiben Sie mir vom Leib, oder … (Sie wirft ihm die Staffelei mit dem Brustbild entgegen, dass beides krachend zu Boden stürzt.)
SCHWARZ (schreit auf)
Barmherziger Gott!
LULU (links hinten)
Das Loch haben Sie selber hineingeschlagen.
SCHWARZ
Ich bin ruiniert! Zehn Wochen Arbeit, meine Reise, meine Ausstellung. – Jetzt ist nichts mehr zu verlieren. (Stürzt ihr nach.)
LULU (springt über die Ottomane, über die umgestürzte Trittleiter, kommt über das Podium nach vorn)
Ein Graben! – Fallen Sie nicht hinein! (Stapft durch das Brustbild.) Sie hat einen neuen Menschen aus ihm gemacht! (Fällt vornüber.)
SCHWARZ (über die spanische Wand stolpernd)
Ich kenne kein Erbarmen mehr.
LULU (im Hintergrund)
Lassen Sie mich jetzt in Ruhe. – Mir wird schwindlig. – – O Gott, o Gott … (Kommt nach vorn und sinkt auf die Ottomane.)
SCHWARZ
(verriegelt die Tür. Darauf setzt er sich neben sie, ergreift ihre Hand und bedeckt sie mit Küssen, hält inne; man sieht ihm an, dass er einen inneren Kampf kämpft).
LULU (schlägt die Augen auf)
Er kann zurückkommen.
SCHWARZ
Wie ist dir?
LULU
Als wäre ich ins Wasser gefallen …
SCHWARZ
Ich liebe dich.
LULU
Ich liebte einmal einen Studenten.
SCHWARZ
Nelli …
LULU
Mit vierundzwanzig Schmissen …
SCHWARZ
Ich liebe dich, Nelli.
LULU
Ich heiße nicht Nelli.
SCHWARZ
(küsst sie).
LULU
Ich heiße Lulu.
SCHWARZ
Ich werde dich Eva nennen.
LULU
Wissen Sie, wie viel Uhr es ist?
SCHWARZ (nach der Uhr sehend)
Halb elf.
LULU
(nimmt die Uhr und öffnet das Gehäuse).
SCHWARZ
Du liebst mich nicht.
LULU
Doch … Es ist fünf Minuten nach halb elf.
SCHWARZ
Gib mir einen Kuss, Eva!
LULU (nimmt ihn am Kinn und küsst ihn, wirft die Uhr in die Luft und fängt sie auf)
Sie riechen nach Tabak.
SCHWARZ
Warum sagst du nicht »du«?
LULU
Es würde unbehaglich.
SCHWARZ
Du verstellst dich!
LULU
Sie verstellen sich selber, wie mir scheint. – Ich mich verstellen? Wie kommen Sie nur darauf? – Das hatte ich niemals nötig.
SCHWARZ (erhebt sich, fassungslos, sich mit der Hand über die Stirn fahrend)
Allmächtiger! Ich kenne die Welt nicht …
LULU (schreit)
Bringen Sie mich nur nicht um!
SCHWARZ (sich rasch umwendend)
Du hast noch nie geliebt …
LULU (sich halb aufrichtend)
Sie haben noch nie geliebt …!
GOLL (von außen)
Machen Sie auf!
LULU (ist aufgesprungen)
Verstecken Sie mich! O Gott, verstecken Sie mich!
GOLL (gegen die Tür polternd)
Machen Sie auf!
SCHWARZ
(will zur Tür).
LULU (hält ihn zurück)
Er schlägt mich tot.
GOLL (gegen die Tür polternd)
Machen Sie auf!
LULU (vor Schwarz niedergesunken, umfasst seine Knie)
Er schlägt mich tot. Er schlägt mich tot.
SCHWARZ
Stehen Sie auf …
(Die Tür fällt krachend ins Atelier.)
Fünfter Auftritt
GOLL. DIE VORIGEN.
GOLL (mit blutunterlaufenen Augen stürzt mit erhobenem Stock auf Schwarz und Lulu los)
Ihr Hunde! – Ihr … (keucht, ringt einige Sekunden nach Atem und schlägt vornüber auf die Diele).
SCHWARZ
(wankt in den Knien).
LULU
(hat sich zur Tür geflüchtet). – (Pause.)
SCHWARZ (tritt an Goll heran)
Herr – Herr Medi – Herr Medizi – Herr Medizinal – Herr Medizinalrat.
LULU (in der Tür)
Bringen Sie doch bitte erst das Atelier in Ordnung.
SCHWARZ
Herr Obermedizinalrat. (Beugt sich nieder.) Herr … (Tritt zurück.) Er hat sich die Stirne geritzt. Helfen Sie mir, ihn auf die Ottomane legen.
LULU (bebt scheu zurück)
Nein, nein …
SCHWARZ (sucht ihn umzukehren)
Herr Medizinalrat.
LULU
Er hört nicht.
SCHWARZ
Helfen Sie mir doch nur.
LULU
Wir heben ihn zu zweit auch nicht.
SCHWARZ (sich emporrichtend)
Man muss zum Arzt schicken.
LULU
Er ist furchtbar schwer.
SCHWARZ (seinen Hut nehmend)
Seien Sie doch bitte so freundlich und richten Sie, bis ich zurück bin, die Stellagen ein wenig zurecht. (Ab.)
Sechster Auftritt
LULU. GOLL.
LULU
Auf einmal springt er auf. – (Eindringlich.) Bussi! – – Er lässt sich nichts merken. – (Kommt in weitem Bogen nach vorn.) Er sieht mir auf die Füße und beobachtet jeden Schritt, den ich tue. Er hat mich überall im Auge. – (Sie berührt ihn mit der Fußspitze.) Bussi! – (Zurückweichend.) Es ist ihm ernst. – – Der Tanz ist aus. – – Er lässt mich sitzen. – – Was fang’ ich an? – (Beugt sich zur Erde.) Ein wildfremdes Gesicht! – (Sich aufrichtend.) Und niemand, der ihm den letzten Dienst erweist. – Ist das trostlos …
Siebenter Auftritt
SCHWARZ. DIE VORIGEN.
SCHWARZ
Noch nicht wieder zur Besinnung gekommen?
LULU (links vorn)
Was fang’ ich an …
SCHWARZ (über Goll gebeugt)
Herr Medizinalrat.
LULU
Ich glaube beinah, es ist ihm ernst.
SCHWARZ
Reden Sie doch anständig!
LULU
Er würde mir das nicht sagen. Er lässt sich von mir vortanzen, wenn er sich nicht wohl fühlt.
SCHWARZ
Der Arzt muss im Augenblick hier sein.
LULU
Arznei hilft ihm nicht.
SCHWARZ
Aber man tut doch in solchem Falle, was man kann.
LULU
Er glaubt nicht daran.
SCHWARZ
Wollen Sie sich denn nicht wenigstens umziehen?
LULU
Ja. – Gleich.
SCHWARZ
Worauf warten Sie denn noch?
LULU
Ich bitte Sie …
SCHWARZ
Was denn …?
LULU
Schließen Sie ihm die Augen.
SCHWARZ
Sie sind entsetzlich.
LULU
Noch lange nicht so entsetzlich wie Sie!
SCHWARZ
Wie ich?
LULU
Sie sind eine Verbrechernatur.
SCHWARZ
Rührt Sie denn dieser Moment gar nicht?
LULU
Mich trifft es auch mal.
SCHWARZ
Ich bitte Sie, jetzt schweigen Sie endlich mal!
LULU
Sie trifft es auch mal.
SCHWARZ
Das brauchten Sie einem in einem solchen Augenblick wirklich nicht noch zu sagen.
LULU
Ich bitte Sie …
SCHWARZ
Tun Sie, was Ihnen nötig scheint. Ich kenne das nicht.
LULU (rechts von Goll)
Er sieht mich an.
SCHWARZ (links von Goll)
Mich auch …
LULU
Sie sind ein Feigling!
SCHWARZ (schließt Goll mit dem Taschentuch die Augen)
Es ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich dazu verurteilt bin.
LULU
Haben Sie es denn Ihrer Mutter nicht getan?
SCHWARZ (nervös)
Nein.
LULU
Sie waren wohl auswärts?
SCHWARZ
Nein!
LULU
Oder Sie fürchteten sich?
SCHWARZ (heftig)
Nein.
LULU (bebt zurück)
Ich wollte Sie nicht beleidigen.
SCHWARZ
– Sie lebt noch.
LULU
Dann haben Sie doch noch jemanden.
SCHWARZ
Sie ist bettelarm.
LULU
Das kenne ich.
SCHWARZ
Spotten Sie meiner nicht!
LULU
Jetzt bin ich reich …
SCHWARZ
Es ist grauenerregend. (Geht nach links.) Was kann sie dafür!
LULU (für sich)
Was fang’ ich an.
SCHWARZ (für sich)
Vollkommen verwildert!
(Schwarz links, Lulu rechts, sehen einander misstrauisch an.)
SCHWARZ (geht auf sie zu, ergreift ihre Hand)
Sieh mir ins Auge!
LULU (ängstlich)
Was wollen Sie …
SCHWARZ (führt sie zur Ottomane, nötigt sie, neben ihm Platz zu nehmen)
Sieh mir in die Augen!
LULU
Ich sehe mich als Pierrot darin.
SCHWARZ (stößt sie von sich)
Verwünschte Tanzerei!
LULU
Ich muss mich umziehen …
SCHWARZ (hält sie zurück)
Eine Frage …
LULU
Ich darf ja nicht antworten.
SCHWARZ (wieder an der Ottomane)
Kannst du die Wahrheit sagen?
LULU
Ich weiß es nicht.
SCHWARZ
Glaubst du an einen Schöpfer?
LULU
Ich weiß es nicht.
SCHWARZ
Kannst du bei etwas schwören?
LULU
Ich weiß es nicht. Lassen Sie mich! Sie sind verrückt!
SCHWARZ
Woran glaubst du denn?
LULU
Ich weiß es nicht.
SCHWARZ
Hast du denn keine Seele?
LULU
Ich weiß es nicht.
SCHWARZ
Hast du schon einmal geliebt –?
LULU
Ich weiß es nicht.
SCHWARZ (erhebt sich, geht nach links, für sich)
Sie weiß es nicht!
LULU (ohne sich zu rühren)
Ich weiß es nicht.
SCHWARZ (mit einem Blick auf Goll)
Er weiß es …
LULU (sich ihm nähernd)
Was wollen Sie wissen?
SCHWARZ (empört)
Geh, zieh dich an!
LULU
(geht ins Schlafkabinett).
Achter Auftritt
SCHWARZ, GOLL.
SCHWARZ
Ich möchte tauschen mit dir, du Toter! Ich gebe sie dir zurück. Ich gebe dir meine Jugend dazu. Mir fehlt der Mut und der Glaube. Ich habe mich zu lange gedulden müssen.
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