Endlich brach Muley das Stillschweigen. "Wer bist du,
mächtiger Fremdling", rief er aus, "der du die wilden Horden der
Wüste durch einen Wink bezähmst?"
"Ihr schlagt meine Kunst höher an, als sie ist", antwortete Selim
Baruch. "Ich habe mich mit diesem Zeichen versehen, als ich der
Gefangenschaft entfloh; was es zu bedeuten hat, weiß ich selbst nicht;
nur so viel weiß ich, daß, wer mit diesem Zeichen reiset, unter
mächtigem Schutze steht."
Die Kaufleute dankten dem Fremden und nannten ihn ihren Erretter.
Wirklich war auch die Anzahl der Reiter so groß gewesen, daß wohl die
Karawane nicht lange hätte Widerstand leisten können.
Mit leichterem Herzen begab man sich jetzt zur Ruhe, und als die
Sonne zu sinken begann und der Abendwind über die Sandebene hinstrich,
brachen sie auf und zogen weiter.
Am nächsten Tage lagerten sie ungefähr nur noch eine Tagreise von dem
Ausgang der Wüste entfernt. Als sich die Reisenden wieder in dem
großen Zelt versammelt hatten, nahm Lezah, der Kaufmann, das Wort:
"Ich habe euch gestern gesagt, daß der gefürchtete Orbasan ein edler
Mann sei, erlaubt mir, daß ich es euch heute durch die Erzählung der
Schicksale meines Bruders beweise. Mein Vater war Kadi in Akara. Er
hatte drei Kinder. Ich war der Älteste, ein Bruder und eine
Schwester waren bei weitem jünger als ich. Als ich zwanzig Jahre alt
war, rief mich ein Bruder meines Vaters zu sich. Er setzte mich zum
Erben seiner Güter ein, mit der Bedingung, daß ich bis zu seinem Tode
bei ihm bleibe. Aber er erreichte ein hohes Alter, so daß ich erst
vor zwei Jahren in meine Heimat zurückkehrte und nichts davon wußte,
welch schreckliches Schicksal indes mein Haus betroffen und wie gütig
Allah es gewendet hatte."
Die Errettung Fatmes
Wilhelm Hauff
Mein Bruder Mustapha und meine Schwester Fatme waren beinahe in
gleichem Alter; jener hatte höchstens zwei Jahre voraus. Sie liebten
einander innig und trugen vereint alles bei, was unserem kränklichen
Vater die Last seines Alters erleichtern konnte. An Fatmes
sechzehntem Geburtstage veranstaltete der Bruder ein Fest. Er ließ
alle ihre Gespielinnen einladen, setzte ihnen in dem Garten des
Vaters ausgesuchte Speisen vor, und als es Abend wurde, lud er sie
ein, auf einer Barke, die er gemietet und festlich geschmückt hatte,
ein wenig hinaus in die See zu fahren. Fatme und ihre Gespielinnen
willigten mit Freuden ein; denn der Abend war schön, und die Stadt
gewährte besonders abends, von dem Meere aus betrachtet, einen
herrlichen Anblick. Den Mädchen aber gefiel es so gut auf der Barke,
daß sie meinen Bruder bewogen, immer weiter in die See hinauszufahren.
Mustapha gab aber ungern nach, weil sich vor einigen Tagen ein
Korsar hatte sehen lassen. Nicht weit von der Stadt zieht sich ein
Vorgebirge in das Meer. Dorthin wollten noch die Mädchen, um von da
die Sonne in das Meer sinken zu sehen. Als sie um das Vorgebirg'
herumruderten, sahen sie in geringer Entfernung eine Barke, die mit
Bewaffneten besetzt war. Nichts Gutes ahnend, befahl mein Bruder den
Ruderern, sein Schiff zu drehen und dem Lande zuzurudern. Wirklich
schien sich auch seine Besorgnis zu bestätigen; denn jene Barke kam
der meines Bruders schnell nach, überholte sie, da sie mehr Ruder
hatte, und hielt sich immer zwischen dem Land, und unserer Barke.
Die Mädchen aber, als sie die Gefahr erkannten, in der sie schwebten,
sprangen auf und schrien und klagten; umsonst suchte sie Mustapha zu
beruhigen, umsonst stellte er ihnen vor, ruhig zu bleiben, weil sie
durch ihr Hin- und Herrennen die Barke in Gefahr brächten
umzuschlagen. Es half nichts, und da sie sich endlich bei Annäherung
des anderen Bootes alle auf die hintere Seite der Barke stürzten,
schlug diese um. Indessen aber hatte man vom Land aus die Bewegungen
des fremden Bootes beobachtet, und da man schon seit einiger Zeit
Besorgnisse wegen Korsaren hegte, hatte dieses Boot Verdacht erregt,
und mehrere Barken stießen vom Lande, um den Unsrigen beizustehen.
Aber sie kamen nur noch zu rechter Zeit, um die Untersinkenden
aufzunehmen. In der Verwirrung war das feindliche Boot entwischt,
auf den beiden Barken aber, welche die Geretteten aufgenommen hatten,
war man ungewiß, ob alle gerettet seien. Man näherte sich
gegenseitig, und ach! Es fand sich, daß meine Schwester und eine
ihrer Gespielinnen fehlten; zugleich entdeckte man aber einen Fremden
in einer der Barken, den niemand kannte. Auf die Drohungen Mustaphas
gestand er, daß er zu dem feindlichen Schiff, das zwei Meilen
ostwärts vor Anker liege, gehöre, und daß ihn seine Gefährten auf
ihrer eiligen Flucht im Stich gelassen hätten, indem er im Begriff
gewesen sei, die Mädchen auffischen zu helfen; auch sagte er aus, daß
er gesehen habe, wie man zwei derselben in das Schiff gezogen.
Der Schmerz meines alten Vaters war grenzenlos, aber auch Mustapha
war bis zum Tod betrübt, denn nicht nur, daß seine geliebte Schwester
verloren war und daß er sich anklagte, an ihrem Unglück schuld zu
sein—jene Freundin Fatmes, die ihr Unglück teilte, war von ihren
Eltern ihm zur Gattin zugesagt gewesen, und nur unserem Vater hatte
er es noch nicht zu gestehen gewagt, weil ihre Eltern arm und von
geringer Abkunft waren. Mein Vater aber war ein strenger Mann; als
sein Schmerz sich ein wenig gelegt hatte, ließ er Mustapha vor sich
kommen und sprach zu ihm: "Deine Torheit hat mir den Trost meines
Alters und die Freude meiner Augen geraubt. Gehe hin, ich verbanne
dich auf ewig von meinem Angesicht, ich fluche dir und deinen
Nachkommen, aber nur, wenn du mir Fatme wiederbringst, soll dein
Haupt rein sein von dem Fluche des Vaters."
Dies hatte mein armer Bruder nicht erwartet; schon vorher hatte er
sich entschlossen gehabt, seine Schwester und ihre Freundin
aufzusuchen, und wollte sich nur noch den Segen des Vaters dazu
erbitten, und jetzt schickte er ihn, mit dem Fluch beladen, in die
Welt. Aber hatte ihn jener Jammer vorher gebeugt, so stählte jetzt
die Fülle des Unglücks, das er nicht verdient hatte, seinen Mut.
Er ging zu dem gefangenen Seeräuber und befragte ihn, wohin die Fahrt
seines Schiffes ginge, und erfuhr, daß sie Sklavenhandel trieben und
gewöhnlich in Balsora großen Markt hielten.
Als er wieder nach Hause kam, um sich zur Reise anzuschicken, schien
sich der Zorn des Vaters ein wenig gelegt zu haben, denn er sandte
ihm einen Beutel mit Gold zur Unterstützung auf der Reise. Mustapha
aber nahm weinend von den Eltern Zoraides, so hieß seine geliebte
Braut, Abschied und machte sich auf den Weg nach Balsora.
Mustapha machte die Reise zu Land, weil von unserer kleinen Stadt aus
nicht gerade ein Schiff nach Balsora ging. Er mußte daher sehr
starke Tagreisen machen, um nicht zu lange nach den Seeräubern nach
Balsora zu kommen; doch da er ein gutes Roß und kein Gepäck hatte,
konnte er hoffen, diese Stadt am Ende des sechsten Tages zu erreichen.
Aber am Abend des vierten Tages, als er ganz allein seines Weges
ritt, fielen ihn plötzlich drei Männer an.
1 comment