Ist es möglich, daß ich soeben noch glücklich und gesund war, wie eine Lerche, und jetzt so elend, ja so krank!« Sie schritt wie verzweifelt im Zimmer umher, öffnete ein Fenster und blickte hinaus.

»Was für ein schöner Tag!« rief sie; »welch liebliche Sommerluft ist uns vergällt! Also so geht's, so geht's, so geht es! So, so!« fügte sie mit halb singendem Tone hinzu, vom bittersten Schmerze hervorgehaucht, schloß das Fenster und setzte sich in einer Ecke auf den Boden, den Kopf auf die Arme legend.

Martin Salander erstaunte in allem Elend über die Rauheit einer Leidenschaft, die er an der Frau noch nicht gesehen; an der leisen Hand des Mitleidens gelang es ihm, sich über die Stimmung der Gattin und zugleich über sein Schuldgefühl zu erheben. Er trat vor sie hin.

»Liebe Marie!« sagte er mit weichem Ernste, »sei nicht so untröstlich! Es ist ja nur Geld! Soll dies das Einzige und Höchste sein, was wir haben und verlieren können? Besitzen wir nicht uns selbst und unsere Kinder? Und soll dieser Trost auf einmal ein leerer Gemeinplatz sein, sobald es uns und nicht andere Leute angeht? Komm, kauere nicht wie ein Kind auf dem Boden, so tiefe Trauer ist das ganze Geld samt dem Wohlwend nicht wert! Zwar sehe ich an deinem leidenschaftlichen Gebaren, daß du noch jung genug bist trotz der Klage über die verlorenen Jahre, und das dünkt mich so lieblich, wie die schöne Sommerluft draußen; aber steh dennoch auf, trockne deine Tränen und laß die Kinder nichts merken, so wirst du dich von selbst fassen! Du hast wohl überhört, daß ich einen Teil des Vermögens gerettet habe, ich trage es in guten Papieren bei mir, die Wohlwend nichts angehen, und so stehe ich doch ungleich besser da als vor sieben Jahren, dazu um nützliche Erfahrungen und Kenntnisse reicher. Komm, mache dich vollends schön, wir wollen jetzt unsere Gänge machen, ich in die Kanzleien und du für die Küche, und nachmittags unternehmen wir einen tüchtigen Ausmarsch mit den Kindern. Wenn wir uns nur ganz gelassen benehmen, so wirst du sehen, daß wir den Ausweg schon wieder finden!«

Er reichte ihr die Hand, und sie richtete sich an derselben auf. Es war in der Tat beinahe die Beschämung eines Kindes, mit der sie die Augen zu ihm aufschlug, aber ebenso kurz andauernd, da ein Strahl besseren Mutes und Vertrauens das Gesicht überflog. Denn sie sah den Mann seiner Lage gewachsen und imstande, sie, die Gattin, zu ermahnen und aufzurichten; auch war seine Demut, die sie am meisten beängstigt, in schicklicher Weise, ohne Aufsehen in den Hintergrund getreten. In einer halben Stunde waren sie bereit, miteinander in die Stadt hinabzuwandern. Setti mußte sich der Mutter anschließen, die beiden anderen Kinder wurden zu ihren Schulbüchern in das Haus verwiesen. Als Salander sich auf dem öden Kiesplatze umsah und mit Ärger bemerkte, wie auch weiterhin eine Menge von Fruchtbäumen verschwunden, die ehemals die Wege beschatteten, fiel ihm auch die Holztafel ins Auge, die über der Haustüre hing und die Inschrift »Pension und Gartenwirtschaft zur Kreuzhalde« aufwies.

»Halt,« sagte er, »die Tafel muß weg, und zwar gleich jetzt.«

Mit Hilfe eines Stuhles hob er das Brett aus den Haken und stellte es hinter die Türe.

»Nun bist du erlöst von der betrübten Herberge!« sagte er; »wir wollen auch sofort einrücken lassen, daß sie geschlossen sei!«

Die Befreiung aus ihrer wunderlichen Zwangslage, auf Gäste warten zu müssen, die nicht kamen und denen sie nichts mehr vorzusetzen gewußt hatte, wenn sie kamen, erleichterte der Frau das Herz, so wie auch das Einkaufsgeld, das sie endlich wieder in ausreichendem Maße in der Tasche führte, ihren Schritten die frühere Sicherheit zurückgab; nur das Gesicht wollte bei aller Gelassenheit seinen Ernst nicht verlieren, weil die seit kaum vierundzwanzig Stunden erlebten Übergänge ihr Gemüt erst jetzt im Innern zum Schwanken brachten, da sie das Ende nicht absehen konnte. Aber dies stille Schwanken verstärkte nur ihren Willen, aufrecht zu bleiben und treu zu den Ihrigen zu halten.

Mann und Frau trennten sich bald mit der Abrede, zur Mittagsstunde wieder beisammen zu sein. Martin Salander begab sich in die Notariatskanzlei. Die gerichtliche Bekanntmachung war soeben in den Blättern erschienen. Dem Notar hatte Wohlwend rundweg abgeschlagen, auf Salanders Anweisung irgendeine Erklärung zu unterzeichnen, und in diesem Sinne auch bei der Versendung eines nichtssagenden Rundschreibens an seine »Geschäftsfreunde« den beraubten Freund übergangen.

Auf den Rat des Notars hatte Martin am Vormittage einen angesehenen Rechtsanwalt aufgesucht und ihm die Wahrung seiner Sache mit gehöriger Vollmacht übergeben, derselbe ihm dagegen aufgetragen, beglaubigte Buchauszüge und Korrespondenzen über seinen Verkehr mit der Bank in Rio de Janeiro beizubringen. Jedenfalls stand eine langwierige Abwicklung des ganzen Prozesses in Aussicht. Die Sache stehe so, meinte der Advokat, daß es noch der glücklichere Fall wäre, wenn es auf förmlichen Betrug hinausliefe, wo man mit Verhaftung und Strafuntersuchung einschreiten und den zur Seite geschafften Raub auffinden könnte, während in einem gewöhnlichen Falliment das anvertraute Gut unter allen Umständen verlorenginge.

Hiemit hatte Martin Salander sich einstweilen zu beruhigen und volle Muße zum Überlegen dessen, was er inzwischen beginnen sollte. Demgemäß fand er sich gefaßt und gewissermaßen zufrieden beim Mittagessen ein, das die Frau ohne jeglichen Aufwand, aber gut und nahrhaft bereitet hatte. Wein sei keiner mehr da, sagte sie, der Mann möge selbst bestimmen, was etwa anzuschaffen wäre; für heute müßten sie sich mit frischem Wasser begnügen, sie denke, wenn man nachher ein bißchen ausfliegen wolle, so werde Martin ohnehin etwa mit ihnen Einkehr halten, wo es zu trinken gäbe, und wenn es nur im Roten Mann wäre.

Diese Anspielung machte sie mit einem kleinen Lächeln und ganz gemütlich; allein sie würde sie ohne die heutigen Enthüllungen doch nicht gemacht haben. Auch verstand er sie wohl und antwortete ungesäumt, sie habe vollkommen recht, ihn daran zu erinnern; er werde trachten, ein Fäßchen von jenem Weine zu erhalten, der ihr gewiß schmecken solle. Mit diesem Vermeiden einer logischen Erörterung war hinwieder die Frau zufrieden, da sie das Geständnis seines Fehltrittes darin sah, fast vor der Haustür noch mit Fremden in ein Wirtshaus zu gehen. Zur Versöhnung erklärte sie übrigens, daß sie sich danach sehne, einige Stunden ins Grüne zu wandern; sie sei niemals nur in den Wald hinauf gekommen, selbst zur Zeit nicht, wo sie noch Dienstleute gehalten habe.

Sie zogen also miteinander aus, in den Wald hinauf, der sie mit seinem durchsichtigen Schatten empfing. Die lange nicht genossene Luft solchen Kulturgehölzes machte dem Familienhaupt wohl zumute; die alte Lebhaftigkeit erwachte in ihm, so daß er Frau und Kindern von dem Unterschiede zu erzählen begann zwischen den Urwäldern des Westens, wo nur Kampf und Ausrottung herrsche, und den von erquickender Luft durchwehten Forsten der Alten Welt, wo der Wald gebaut und gepflegt würde fast wie ein Hausgarten. Und wie auch da noch Gegensätze zu treffen seien, zeigte er ihnen, indem er hier an dem reinlichen Boden und den sauber und licht gehaltenen Stämmen eine Staats- oder Genossenschaftswaldung, dort an Gestrüpp, Wucherzeug und kränklichem Holze den Besitz nachlässiger Bauern erkennen wollte. Auch prüfte er die Kinder, ob sie hie und da eine blühende Pflanze zu benennen wüßten oder den Vogel kennten, der soeben gepfiffen habe. Sie wußten aber nichts, und er sagte zur Frau: »Das ist's eben; die Kinder sind zu einsam!«

»Aber lieber Mann,« erwiderte sie, »die Kinder sind ja das Jahr hindurch unter hundert andern, und in ihren Schulstuben sind alle Wände voll Bilder, auch viele Vögel, die sie bei Namen kennen! Was die lebendigen Vögel betrifft, so habe ich als Mädchen gerade durch meine Unkenntnis etwas erlebt, das mir immer noch nachgeht. Eines Sonntagabends, nach der Singstunde, spazierte ich ganz allein über eine Anhöhe nach Hause und saß oben ein Weilchen nieder. Gegenüber lag ein anderer bewaldeter Hügel, in dessen Bäumen verborgen ein mir unbekannter Vogel sang, so schön, so schön durch die stille Luft und Einsamkeit, daß es mir wahrhaftig das Herz bewegte und ich feuchte Augen bekam. Ich erzählte zu Hause davon und hätte gar zu gern gewußt, was das für ein Vogel mochte gewesen sein. Die Leute rieten hin und her, ein Bursch, der manche Vogelstimmen nachahmen konnte, gab diesen und jenen Ton an und nannte den betreffenden Singvogel; allein keine der Weisen glich dem, was ich gehört. Jetzt, nach soviel Jahren, höre ich in ruhigen Augenblicken noch den unsichtbaren Sänger und bin froh daß er mir unbekannt geblieben ist und auf die Art mir die Feierlichkeit jener Abendstunde stets in Erinnerung blieb.«

»Du hast mir das auch schon erzählt,« sagte Salander lachend, »und es ist artig genug, ich will es nicht bemängeln! Allein wenn es ein Argument gegen das Kennenlernen der Dinge sein soll, so muß ich dich zur Ordnung rufen, Frau Jesuitin! Verkünderin des Mysteriösen und Unbekannten!«

»Geh, du weißt wohl, daß es nicht so gemeint ist, du Schulmeister!«

Der neckische Ton verwandelte sich in ein ernsteres Gespräch über Ziele und Grenzen des erzieherischen Verkehrs mit den Kindern, welches die wackere Frau mit aufmerksamer Teilnahme in allen Ehren bestand. Beide Gatten, indem sie die Kinder vor sich herspringen sahen, vergaßen darüber die Gegenwart und blickten von Hoffnungen belebt in die Zukunft, welche ihnen fast so lieblich dünkte als der unbekannte Vogel der Frau Marie.

So hatten sie einen beträchtlichen Weg zurückgelegt und stiegen in ein Waldtälchen hinunter, durch das ein schöner klarer Bach floß, der sein reichliches Wasser über das bunte Geschiebe und Gerölle wälzte, wie es der Berg abließ.