In der Tat, wir stehen mit derselben im Verkehr!«
»Ist es etwa nicht angezeigt worden?«
»In der Tat, ich erinnere mich an etwas dergleichen, habe aber nicht beachtet, wen es betrifft. Unsere Geschäfte haben sich leider durch zu raschen Aufschwung so sehr ausgedehnt, daß ich den Überblick momentan nicht zur Verfügung habe. Die Bank hat ein bedeutendes Guthaben bei uns; indessen, wir stehen in Gegenrechnung, und ich müßte nachschlagen. Sapperment! Hundertsechzigtausend Francs! Du machst ja große Geschäfte, Freund!«
»Es ist so ziemlich, was ich in sieben Jahren aufgebracht habe! Aber es wäre mir lieb, wenn du nachschlagen wolltest!«
»Das kann ich augenblicklich nicht, guter Martin! Du mußt wissen, daß wir uns in einer unversehens hereingebrochenen Krise befinden, welche hoffentlich vorübergehend ist!«
»Wer sind denn die Wir?«
»Nun, die Firma und ich, deren Inhaber! Früher war ein gewisser Schadenmüller dabei. Kurz, die Bücher liegen auf der Kanzlei, und da begreifst du, daß ich jetzt nicht nachschlagen kann!«
»So schreibe wenigstens auf das Papier, daß es von dir eingesehen wurde!«
»Nichts schreib ich darauf, bis ich orientiert bin!«
Dieses Benehmen brachte Salander etwas auf, sosehr er an sich hielt.
»Es ist jetzt das zweite Mal, daß du so zu mir stehst, und du scheinst dir nichts daraus zu machen, mich womöglich auch diesmal um alles zu bringen!« sprach er mit strengerem Blick. Allein Wohlwend ließ sich nicht beirren.
»Bitte, nicht schimpfen!« sagte er mit gehobener Stimme, »noch bin ich nicht fallit! Und nie gewesen! Und wenn ich es wäre, so stehe ich in der Hut der Gesetze und des Rechtes und ist überall mein Haus meine Burg!«
Salander fiel voll Erstaunen und wie erschöpft auf einen mit Plüsch bezogenen Armsessel, der mit kopfgroßen Rosen bedruckt war. Wohlwend setzte seine Rede mit begütigter Stimme fort:
»Lieber alter Freund! Mach es wie ich, behalte den Kopf oben! Sieh her, in meiner unfreiwilligen Muße bin ich nicht müßig, grüble nicht über Unabwendbares; ich werfe mich auf Wissenschaft und Kunst. Hier treibe ich Heraldik, mit Einbeziehung der bäuerlichen Hauszeichen, der Handwerksinsignien und verwandter Dinge!« Ein paar abgegriffene Wappenbücher, wie sie die Petschaftstecher und Löffelgraveure an den Messen und Jahrmärkten vor sich aufgeschlagen halten, lagen auf dem Schreibtische, dabei eine Farbenschachtel, wie die Knaben sie brauchen, wenn sie Bilderbogen illuminieren, und einige Papierblätter mit ganz kindisch nachgemalten Wappenbildern. Auch eine verworrene Skriptur machte sich breit.
»Hier lassen sich alte Fäden politischer und kultureller Entwicklung offenlegen und neue anknüpfen im Sinne einer neuen Verteilung der Volksehren –«
Martin Salander hörte nicht länger auf die nachfolgenden Reden des Mannes; er griff nur noch mechanisch nach einem schmierigen aufgeschlagenen, aber auf dem Bauche liegenden Buche, mitten auf dem Tische des Kaufherren und Mäzens. Es war ein uralter Räuberroman mit dem Zeichen einer Leihbibliothek, offenbar die eigentliche Lektüre des Possenreißers in seiner unfreiwilligen Muße.
Er nahm seine brasilianische Anweisung dem guten Freunde aus der Hand, steckte sie sorgfältig ein, unterbrach die Rede und fragte nur noch: »Bist du verheiratet, Louis Wohlwend?«
»Wieso fragst du das? Nein!« erwiderte dieser.
»Ich meinte nur wegen des schönen Winkelriedspruches, der an dein Haus gemalt ist! Du bist wohl im allgemeinen ein Beschützer der Witwen und Waisen oder solcher, die es werden könnten?«
»Du weißt, daß ich von jeher einem idealen Zuge nachgehangen bin, und die Wohnhäuser freier Bürger mit edlen Sinnsprüchen historischen oder moralischen Gehaltes zu schmücken und dazu Anregung zu geben, dünkt mich lobenswert!«
Nach diesem Spruche Wohlwends setzte Salander seinen Hut mitten in der Stube auf den Kopf und verließ ohne ein weiteres Wort das Haus.
Er rief eine Droschke herbei und ließ sich nach der städtischen Notariatskanzlei fahren. Der Notar las die Anweisung, die ihm Salander nach Mitteilung der Umstände vorlegte, rückte die Brille zurück und sagte:
»Sind Sie selbst der Herr Martin Salander? Ja? – Es ist eben eine böse Sache! Morgen erscheint die amtliche Publikation der Konkurseröffnung mit den üblichen Fristen, soweit haben Sie noch alle Zeit. Ich will auch heute selbst noch hingehen und den Mann amtlich einvernehmen bezüglich Ihrer Forderung.«
»Das dringendste,« warf Salander ein, »scheint mir zu sein, daß schleunigst die Verwahrung an die Bank in Rio abgeht! Ich bin bereit, die Kosten der nötigen Kabeldepeschen zu hinterlegen!«
»Das ist leider Gottes nicht mehr das nächste für Sie, Herr Salander!« erwiderte der Notar mit ernster Teilnahme, »vorgestern lief die sichere Nachricht ein, die Atlantische Uferbank in Rio de Janeiro zahle nicht mehr, gestern kam der Nachtrag, die Direktoren seien verschwunden und die Angestellten auseinandergelaufen. Hiesige Häuser haben schon vor zwei Wochen schlimme Berichte erhalten, und was das schlimmste ist, man hält bereits die aufgeflogene Bank und was drum und dran hängt für ein ausgebreitetes Raubgeschäft. Ich fürchte, viele anvertraute Gelder sind ins Wasser gefallen, wo es am tiefsten ist.«
Salander mußte sich am Pulte des fleißigen Mannes halten und sagte nichts.
Der Notar sah nach der Uhr.
»Ich werde mit Ihnen zum Gerichtspräsidenten gehen, es ist gerade noch Zeit; denn es ist für alle Fälle nötig, daß Sie eine gerichtliche Beschlagnahme des Guthabens der Bank auswirken, welches die Anweisung angeblich decken soll.«
»Ich habe unten eine Droschke stehen«, sagte Salander. Sie fuhren hin und erhielten die gewünschte Verfügung, welche freilich kaum einen greifbaren Wert vorfand.
Solch ein trauriger Bericht wartete auf Marie Salanders Erwachen, und als das wachsende Frührot am wolkenlosen Himmel ihr schlummerndes Gesicht wie ein glückseliger Traum zu beleben schien, verschob der Mann abermals das Gericht seines Leichtsinns, dessen er sich nun beschuldigte, bis die Kinder zum Einkauf der Lebensmittel ausgesandt worden, dann wieder, bis das Frühmahl eingenommen wäre. Er wollte nicht, daß die Frau am ersten Morgen der Wiedervereinigung in Tränen am Herde stehen sollte.
V
Die Kinder gingen und kamen, die Frau bereitete das Frühstück und nahm es inmitten der Ihrigen mit an sich haltendem Frohmut ein, während die Kinder so lustig waren, daß sie auch den Vater aufheiterten und seine Sorge noch ein Morgenschläfchen tat, obgleich es aus allen Türmen sieben schlug. Da fielen ihm auch die Geschenke ein, die er in England in freigebiger Laune beschafft hatte. Stracks öffnete er die Koffer und kramte aus, Ledersachen mit Stahlgeräten, merkwürdig hübsche Bilderbücher, deren englischen Text er gleich zum ersten spielenden Unterricht benutzen wollte, feine Tücher und Spitzen für die Frau und die Mädchen, und einen ganzen Haufen vermischtes Backwerk, das überall zum Ausfüllen in die Kisten gestopft war.
Das alles gab eine herrliche Kurzweil und Bestätigung des Anbruches eines goldenen Zeitalters, spornte aber zugleich die Hausmutter an, die solchem Wandel gemäßen Pflichten zu erfüllen. Sie ging hinweg, sich für die nötigen Geschäftsgänge anzukleiden, was den guten Martin plötzlich an die Gewißheit erinnerte, daß sein Unglückshandel jetzt bereits stadtbekannt sein müsse; denn nicht nur hatte Freund Wighart jedenfalls gestern seinen Abendgang durch ein paar Kaffeehäuser gemacht und die Neuigkeit mit allem Anteil verkündet, sondern auch die Beamten hatten keinen Grund, in einer offenen Konkurssache mit so ungewöhnlichen Vorfällen geheimzutun. Er durfte es nicht darauf ankommen lassen, daß die Frau sozusagen auf offener Gasse von dem Gerücht überfallen würde. Hastig gab er den Kindern eines der Bücher und eine Handvoll englischen Biskuits und riet ihnen, sich im Freien unter dem Platanenbaum anzusiedeln, was ihnen gleich einleuchtete.
»Du, Netti! unser Vater gefällt mir, dir nicht auch?« sagte im Hinausgehen das altkluge Setti zu seiner Schwester, die nachahmend und überbietend erwiderte: »Oh, ganz gefällt er mir! Und ich finde, daß er sich gut für unsere Mutter schickt! Du nicht auch?«
Arnold, der still hintendrein ging, hörte diese weisen Aussprüche und verstand mehr davon, als die klugen Schwestern dachten; denn er empfand es als ein geheimnisvolles Glück, daß die Eltern gut füreinander paßten und glaubte gern daran, sagte aber kein Wörtchen dazu.
Der Vater war indessen schon in die Schlafstube getreten, wo Frau Marie eben ihr Oberkleid angelegt hatte und die Brustteile zuzuknöpfen begann.
»Marie,« sagte er, »du hast mir nie geschrieben, daß der Louis Wohlwend wieder eine Handlung angefangen habe, sogar eine Art von Bankgeschäft?«
Die Frau hielt inne und sah ihn groß an:
»Davon wußte und weiß ich ja gar nichts! Woher sollte ich es wissen, da ich nicht unter die Leute komme auf meiner Einsiedelei?«
»Auch von dem Haus Schadenmüller und Compagnie hast du nichts gehört?« fragte er weiter, immer noch zögernd.
»Nein doch! Wer ist das wieder?«
»Das ist die Handlung, auf welche ich mit meiner, mit unserer ganzen Ersparnis angewiesen bin, die ich in Rio bar einbezahlt habe. Warte!«
Er lief nach einer der geöffneten Kisten und holte das in Brasilien abgeschlossene Hauptbuch herbei, aus einem dunkeln Instinkte, daß die größere Anschaulichkeit den Vorgang erleichtern könnte.
Auf dem letztbeschriebenen Blatte stand mit schöngemalten Zahlen der Saldo seines Vermögens eingetragen, über einem mittels des Lineals vergnüglich und tadellos hergestellten Federstriche, und unter diesem war zu lesen: »Von obigem Saldo ist abzurechnen die Summe von 25000 Fr. eidgenössischer Währung als Guthaben meiner Ehefrau Maria N. N. aus ihrem mir zugebrachten Vermögen.«
Das aufgeschlagene Buch legte er auf den kleinen Tisch, der dastand, und legte den Finger auf den Rechnungsabschluß.
»Siehst du, das sind sechsunddreißig Contos de Reis, etwas über zweimalhunderttausend Franken nach unserm Geld! Um Lebens und Sterbens willen habe ich dein Zugebrachtes daruntergesetzt, wie du es da lesen kannst! Vom Ganzen aber übergab ich drei Vierteile einem angesehenen Bankhause in Rio und erhielt dafür eine Anweisung auf Schadenmüller und Comp. dahier, wo ich das liebe Geld bar in Empfang nehmen sollte. Woraus besteht aber diese Compagnie Schadenmüller? Aus einem einzigen Mann, und der heißt Louis Wohlwend und bezahlt nichts; denn er ist wieder einmal im Konkurs und kommt heute im Amtsanzeiger. Und hier ist schon der Bericht eingelaufen, daß auch das Haus oder die Gesellschaft in Rio de Janeiro verschwunden sei! Bis jetzt kann keine Seele wissen, wo das Geld geblieben ist, ob es in Rio schon beseitigt wurde oder ob es der Wohlwend erwischt hat.«
Dies alles brachte er mit trockener, zuweilen stockender Stimme vor. Frau Marie, zuerst nur halb neugierig, sah bald auf das Buch, bald in sein Gesicht, was ihr die Hauptsache war und ihre Aufmerksamkeit am meisten erregte, bis sie zuletzt totenblaß wurde; ohne etwas zu sagen, heftelte sie mit zitternder Hand das Kleid vollends zu und begann dann erst einzelne Fragen zu stammeln und sich nach und nach in dem Unstern zurechtzufinden. Geduldig und fast demütig fügte sich Martin in die geringe Ordnung ihrer Rede und wiederholte die gleichen Aufschlüsse und Bestätigungen, bis ihr alles klar und deutlich war.
Erst jetzt brach sie händeringend in heiße Tränen aus, indem sie ausrief: »O du armer Mann! Wo sind unsere sieben Jahre der Trennung und der Sorge?«
Plötzlich ging das erstickende Weinen in einen leidenschaftlichen Zornausbruch über.
»Unsere letzte Jugendzeit hat er vernichtet, der Hund! Wo ist er hin damit, der Blutegel? Kann man ihm kein Salz auf den Rücken streuen? Kann man ihn nicht zusammenpressen, den Schwamm, der alles aufsaugt? Dieser verfluchte Landschaden! Wart, Mann! Wenn du ihn nicht bändigen kannst, so will ich den Sohn für ihn erziehen, daß er ihm einst den Lohn gibt! Jetzt weiß ich auch, warum mich immer eine Art Ahnung beschlich, wenn ich den Marder sah mit seinem glatten Balg.
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