In einer rundlichen Ausbuchtung ergoß sich über einige bemooste Steinblöcke ein kleiner Wasserfall, unmittelbar aus jungem Buchenschlag hervor, und Martin Salander erkannte sogleich den anmutigen Winkel von früher her.

»Dort wollen wir uns ein Stündchen niederlassen«, sagte er und rief den Kindern zu, ihnen den Weg anweisend. Auch Frau Marie pries das Tälchen und eilte rüstig den abschüssigen, von Gestein unterbrochenen Pfad hinunter. Seit langer Zeit war es ihr nicht vergönnt gewesen, sich in freier Natur zu bewegen ohne einen andern Zweck als die Bewegung selbst. Am Bachufer angekommen, hatten sie noch um ein vorragendes größeres Felstrumm zu biegen, welches den besten schattigen Ruheplatz verbarg. Die vorausgelaufenen Kinder standen plötzlich still, und als auch die Eltern am Platze waren, sahen sie einen Mann, der mit bloßen Füßen, ausgestülpten Beinkleidern und Hemdärmeln im Wasser stand und unter den Steinen umhergriff, nach Krebsen suchend. Auf einer trockenen Steinplatte des Ufers lagen ein paar kleine tote Forellen neben einem Gesäße, wie es die Angelfischer mit sich führen, und einer offenen Botanisiertrommel, welche in Papier gewickelte Eßwaren enthielt. An geschützter Stelle befand sich im kühlen Wasser eine angebrochene Weinflasche.

»Der Platz ist schon besetzt,« sagte halblaut Salander, »wir wollen weitergehen!« Er ging vorwärts, um auf dem engen Wege zwischen dem Krebsfänger und seinen Veranstaltungen vorbeizukommen, und seine Familie folgte ihm auf dem Fuße, zunächst die Frau. Da richtete sich der Mann im Bache auf und schaute sich um. Es war Herr Louis Wohlwend, der sich hier still zu vergnügen schien.

Die Überraschung bannte beide Parteien fest, so daß um Wohlwends Beine die Bachwellen einen kleinen Schaum erregten und hinter Salander seine Familie gedrängt stehenblieb. Wie es meistens geschieht, war der unrechtleidende Teil wieder verlegener als der andere, und da Wohlwend die Salanderschen verblüfft vor sich sah, richtete er sich hoch auf, brachte die Hand an den Hutrand und rief: »Ah, salut!«

»Gibst du hier Audienzen?« sagte Salander endlich, ohne sich zu rühren.

»Wie du willst!« versetzte Wohlwend; »wo sollte ich am heutigen Tage mich hinflüchten als an den Busen der Mutter Natur? Es ist gewissermaßen mein Ehrentag, an dem ich das Martyrium unseres Jahrhunderts antrete als Opfer des Verkehrs, des Kampfes ums Dasein! Heut stehe ich im Amtsblatt, da ist die erste Folge, daß ich mein bescheidenes Plätzchen im Kaffeehaus, mein harmloses Spielchen um den Kaffee entbehren muß; das erfordert die Etikette, wie sie einmal ist, bis sich die Sintflut des Geschwätzes verlaufen hat! Du weißt, Freund Martin, daß ich von jeher einem edeln Idealismus gehuldigt; der kommt mir nun zu gut und läßt mich an so idyllischen Gegenständen Trost suchen, wie sie sich hier darbieten! – Ha, die Frau Liebste! Schöne Frau, seien Sie mit aller Verehrung begrüßt nach so langer Zeit –«

»Wohlwend, Ihr könnt hier nicht mit uns von Euren Sachen reden; das sind unsere Kinder, vor denen es sich nicht schickt! Sie sollen dergleichen nicht hören! Bitte, lieber Martin, laß uns unsers Weges gehen!«

Dies sagte Frau Salander, indem sie die Hand an des Mannes Arm legte. Martin wandte sich gehorsam und setzte schweigend den Weg fort; Marie trat etwas zur Seite und schob die Kinder vorwärts, und erst, als das letzte vorüber war, folgte auch sie, ohne sich weiter umzusehen. Sie mußte ihre Röcke zusammennehmen, um zwischen den herumliegenden Sachen Wohlwends, wozu auch seine Strümpfe und Stiefel gehörten, durchzukommen, ohne sie zu streifen.

Dieser stand wie versteinert in seinem Bache. In Gesicht und Stimme der Frau hatte trotz einer blassen Unbeweglichkeit eine solche mit Verachtung durchwirkte Strenge gelegen, daß ihm die Furcht aufsteigen wollte, es gäbe noch höhere Mächte als Konkursrichter und Gläubigerversammlungen. Es dünkte ihn nicht mehr geheuer im Wasser; er watete hinaus und zog hurtig seine Fußbekleidung wieder an, um auf alle Fälle besser zu stehen. Dann las er drei oder vier Krebse zusammen, die bereits gefangen, aber dem Fischkübelchen entronnen waren und dem Wasser entgegenstrebten. Zuletzt, um sich von dem lächerlichen Weiberauftritt zu erholen, zog er die Flasche aus dem Wasser und setzte sich mit derselben und der botanischen Büchse auf die Platte.

Aber wiederholt unterbrach er sein Vespermahl. Wie kann das Weib sich herausnehmen, ihn kurzweg mit Wohlwend anzureden, ohne Herr, und ihn zu ihrzen wie einen Knecht oder Lumpensammler! Am meisten beschäftigte ihn das mit den Kindern. Hatte er denn etwas Unsittliches gesagt, was sie nicht hören durften? Gar nicht! Er hatte eher schöne, erhebende Worte gesprochen, wenn sie auch nicht bare Münze waren. Hätte doch Salander geschimpft, dem würde er den Rechtsstandpunkt erläutert haben; aber er hat weislich geschwiegen.

Wohlwends Idylle war durch die Frau entschieden gestört, und er packte zusammen. Doch schlug er einen andern Weg ein, als die Salanderleute gegangen.

Diese stiegen wieder in die Höhe und sprachen einige Minuten nichts, bis Martin über die kurze Rede seiner Frau lachen mußte.

»Du hast ihn scharf behandelt!« sagte er zu ihr, »wie zum Teufel gerätst du auf den Einfall, per Wohlwend und per Ihr mit ihm zu reden?«

»Ich denke, man spricht so mit den Sträflingen in den Zuchthäusern; in meinen Augen ist er aber nichts Besseres!«

Sie schien indessen durch den Vorfall ein klein wenig erheitert zu sein; auch Martin lachte abermals, als er bedachte, wie schlau der Konkursit die Kaffeehäuser vermied, um tief im Walde seinen Meister zu finden. Nach einigem Schweigen, als die Frau Raum bekam, ihm zur Seite zu gehen, ergriff er wieder das Wort.

»Ich weiß nicht, ich schwanke doch zuweilen, ob er nicht eher ein Narr sei als ein schlechter Mensch; freilich ein gefährlicher Narr!«

Frau Marie antwortete nur mit einem leichten Seufzer, womit sie die weitere Untersuchung abschnitt. Die Kinder schwärmten links und rechts im Gehölze, die Eheleute aber schritten jetzt längere Zeit schweigend nebeneinander. Martin bemerkte endlich einen mehr auf die Höhe führenden Weg. »Hier geht es, wenn ich mich nicht irre, auf einen guten Aussichtspunkt. Magst du noch so weit gehen, so können wir, statt in dem Loch unten, wo uns der Unhold störte, oben unter dem offenen Himmel ausruhen, so sehe ich zugleich ein Stück meines Landes.«

»Gern geh ich hinauf; es kann nicht mehr weit sein, wir waren früher ja ein paarmal dort!«

Sie erreichten eine Hochstelle, vor welcher das östlich und nördlich gelegene Land sich wirklich weithin ausbreitete und in den Schmelz des schönsten Ferneblaus verlor. Unter einer Gruppe hoher Tannenbäume nahm eine Ruhebank sie auf, und sogleich suchten die Augen zwischen den sanft hinziehenden Erhebungen und dazwischen sich schmiegenden Gefilden ihre Heimatgegenden, und sie glaubten an sonnigem Hange eine Kirche oder ein Schulhaus weiß aufschimmernd zu sehen. Salander rief die Kinder herbei und zeigte ihnen das Land. »Ich habe gelesen, daß in den letzten Jahren in der Schule eine Art Heimatkunde eingeführt worden sei; wie steht es damit? Was liegt dorthin für ein Landesteil?«

Sie wußten noch nichts; nur das ältere Mädchen nannte das nächste, worin sie wohnten, den Bezirk Münsterburg, und wußte auch, daß es zwölf solcher Bezirke gebe.

»Gut! diese nannte man früher Oberämter, noch früher Vogteien, ehmals Herrschaften und Grafschaften«; eine solche umriß er, mit dem Zeigefinger einen bedeutenden Teil des Horizontes entlangfahrend. Die geschichtlichen Erinnerungen wachten auf und schlossen sich aneinander, bis die Gegenwart daraus hervorging, und alles schien ihm das sichtbare Land noch mehr zu verklären.

»Die Neue Welt jenseits des Meeres«, sagte er zur Frau, nachdem die Kinder wieder weggesprungen, »ist wohl schön und lustig für Menschen ausgelebter und ausgehoffter Länder. Alles wird von vorn angefangen, die Leute sind gleichgültig, nur das Abenteuer des Werdens hält sie zusammen; denn sie haben keine gemeinsame Vergangenheit und keine Gräber der Vorfahren.