Solange ich aber das Ganze unserer Volksentwicklung auf dem alten Boden haben kann, wo meine Sprache seit fünfzehnhundert Jahren erschallt, will ich dazugehören, wenn ich es irgend machen kann! Ich ginge doch ungern wieder fort!«

»Ums Himmels willen, wie kommst du darauf?« rief Marie Salander erschreckt.

»Ich meine nur so, eben darum!« versetzte er möglichst gleichmütig, um zu verbergen, daß er just eine erste Andeutung des Entschlusses gewagt hatte, der in ihm aufdämmerte, ehe der Abend des zweiten Tages seiner Heimkehr da war.

Wochen auf Wochen vergingen, ohne daß Wohlwends Prozeß einen Schritt vorwärtsrückte; er wußte große und kleine Gläubiger so zu bereden und zu verwirren, daß sie nicht schlüssig werden konnten, und schon war anzunehmen, daß das Jahr ohne Entscheidung ablaufen werde. Von alledem war Salander mit seiner Anweisung ausgeschlossen, welche anzuerkennen Wohlwend sich beharrlich weigerte. Es ging allerdings aus seinen Büchern hervor, daß er mit der Atlantischen Uferbank in Verkehr gestanden und von Zeit zu Zeit Wertsendungen in Wechseln erhalten, die er stets weiterbegeben haben wollte. Aus Rio de Janeiro war, wie die Sachen dort standen, zur Zeit kein Aufschluß erhältlich, und in Münsterburg weigerte sich nicht nur Wohlwend, sondern auch die Masse, Salanders Ansprüche zuzulassen.

Sein Anwalt glaubte, er würde am besten tun, die Reise nach Brasilien rasch nochmals zu verannehmen, um selbst an Ort und Stelle das Mögliche zu unterlassen, wobei ja die Kosten nicht im Verhältnisse zu dem großen Verluste ständen und durch gelegentliches Geschäft mehr als eingebracht werden könnten.

Diese Andeutungen reichten hin, den schon erwachten Gedanken festzumachen, das Glück aufs neue zu versuchen. Wenn er von dem Vermögensreste, der ihm geblieben, das Gut seinem Frau ausschied und sicherstellte, so konnte er mit dem übrigen und beim jetzigen Stande des Handelsverkehrs wohl wagen, die kürzlich abgebrochenen Verbindungen wieder aufzunehmen. Er getraute sich, das Verlorene in weit kürzerer Zeit einzubringen und überdies der Familie ihren regelmäßigen Unterhalt zukommen zu lassen.

Also bereitete er im stillen alles vor, erhielt auch von verschiedenen Häusern sogleich nützliche Anerbietungen, mietete für Frau und Kinder oder eigentlich für sich selbst mit eine bescheidene, aber anständige Wohnung und machte sich schließlich daran, der guten Marie die Sachlage zu eröffnen.

Obgleich die Dinge diesmal ungleich besser standen als bei der ersten Trennung, so wurde sie doch tieftraurig. Sie saßen am Fenster des Schlafzimmers sich gegenüber, durch welches Marie an jenem Morgen in ihrer Fassungslosigkeit den schönen Tag angerufen hatte.

»Als ich«, sagte sie nach einem Weilchen mit halber Stimme, »dort in der Ecke auf dem Boden saß, hast du mich ermahnt, ob das Geld denn das einzige und Höchste sei, wonach der Mensch trachten könne? Du hast so recht gehabt, Martin, daß ich dir nun das Wort zurückgeben möchte!«

»Es ist nicht der gleiche Fall!« erwiderte Martin, »es ist nicht dasselbe, ob wir wegen verlorener Güter verzagen oder ob wir verzichten wollen, mit frischer Tatkraft Verlorenes wiederzuerringen! Ich kenne nun einmal den Weg, soll ich ihn geflissentlich vermeiden? Denke an unsere Kinder, Marie!«

»Ach, ich denke eben an unsere Kinder! Müssen sie denn durchaus reich werden, um leben zu können?«

»Marie! Du hast ja erfahren, wie es kommen kann, wenn man nichts hat!«

Ohne hierauf zu antworten, fuhr sie fort:

»Sieh, als wir im Walde droben auf der Bank saßen und in das heimatliche Land hinausschauten, da dachte ich bei mir selbst, es wäre vielleicht das beste für uns und die Kinder, wenn du dort herum wieder eine Schule übernehmen und der bösen Welt aus dem Wege gehen würdest! Mit dem Gelde, das du gerettet hast, wollten wir bequem auskommen und noch zurücklegen –«

Salander war durch die Rede seiner Gattin im alten Lehrergewissen getroffen, ohne daß sie es wußte; er war freilich ein Fahnenflüchtiger. Aber er ließ sie nicht ausreden, sondern faßte etwas krampfhaft ihre Hand:

»Nach den Geniestreichen, die ich mit unserem Wohlerworbenen schon gemacht, begreife ich deinen Gedanken sehr gut, er ist billig und verständig! Aber ich kann nicht! Erstens würde ich kaum noch die nötige Übung und auch Erhaltung und Mehrung der Kenntnisse besitzen, um ohne weiteres ein Lehramt anzutreten, und zu einem Wiederholungskurs bin ich doch zu alt! Dagegen fühle ich mich noch jung genug, freiwirkend in der Welt zu stehen, wozu mich eben der Geist getrieben hat. Dazu brauche ich diejenige Unabhängigkeit, welche nur ein mäßiger Besitz verleiht; denn ein zu großer macht natürlich den Mann auch unfrei. Glaub nur, es wird mir gewiß noch gelingen! Ich werde nicht so lange fortbleiben, ein Teil der Geschäfte wird sich sogar hier abspielen und eine unvermutete Zwischenreise mit fröhlichem Wiedersehen nicht ausgeschlossen sein!«

»So nimm uns mit!« sagte sie mit brechender Stimme.

»Um euch Krankheit und Tod auszusetzen? Und dann geht es nicht, weil die Kinder hier im Lande geschult werden müssen.« Er nahm sie mit diesen Worten zärtlich in die Arme und hielt sie so lang, bis sie sich seinem Willensschlusse ergeben hatte.

Er besorgte nun zunächst den Umzug in die neue Wohnung, die so gelegen war, daß die Frau Salander allenfalls einem kleinen Warenhandel vorstehen konnte, den er von Brasilien aus eigens für sie zu unterhalten gedachte. Zu diesem Zwecke war im Erdgeschoß ein Magazin mit Schreibstübchen für die Frau Prokuraträgerin vorgesehen. Der Mann wollte auch sofort vorläufig eine Magd eintun mit der Mahnung, sobald notwendig, auch ein Gewerbsknechtlein zu beschaffen. Doch die Frau widersetzte sich ebenso vorläufig jeder Idee von Dienerschaft im Hause.

Als auch alles übrige verrichtet war, begleitete die kleine Familie den Martin Salander auf den Bahnhof, zu guter Zeit. Auch Herr Möni Wighart stellte sich um so pünktlicher ein, als er in der Restauration, den lustigen Verkehr des Frühherbstes betrachtend, eine Tasse kräftiger Fleischbrühe zu genießen pflegte. Er versprach dem Abreisenden, die Wohlwendsche Konkurssache unter der Hand zu beobachten und getreu zu berichten, was im Publikum vorgehe und geredet werde.

So fuhr Martin wieder den atlantischen Ufern zu.

 

VI

 

Die Zeit floß ruhig über die Schicksale hin, oder sie trug sie vielmehr unvermerkt, und so saß auch nach drei Jahren Frau Marie wirklich in ihrem Schreibstübchen und verzeichnete im Buch eine Anzahl Kaffeesäcke, welche der Fuhrmann abgeladen und ein rüstiger Arbeitsmann in das Magazin trug, worauf er wieder an das Verpacken von Zigarren ging; es war eine beliebte neue Sorte, die Martin Salander von den Kolonien sandte und zum Teil selber pflanzen ließ, da er eigens dazu Land gekauft hatte. Auch eine Dienstmagd erschien, die Frau wegen des Abendessens zu befragen; sie erhielt die Weisung, man wolle einmal von dem Paraguay-Tee kosten, welchen Herr Salander versuchsweise geschickt habe, ob er wohl Abnehmer finde. Hierauf brachte ein Landkrämer das Geld für einen Sack Kaffee und bestellte einen neuen, während ein Herr kam, der sich ein Probekistchen von den Zigarren ausbat, von denen er gehört.

Der Postfaktor kam, eine Mandatsumme auszuzahlen, und endlich kehrten die Mädchen aus der Sekundarschule, die sie besuchten, nach Hause, und das ältere, Setti, wurde sofort mit den eingegangenen Geldern auf die Bank geschickt, wo das kleine Handelshaus im Kontokorrentverkehr stand. Dieses gleiche Mädchen, das seinem sechzehnten Jahre entgegenging, erhob bereits den Anspruch, auf nächste Ostern bei der Mutter als »Buchhalterin« einzutreten. Der Rechnungslehrer hatte gesagt, sie addiere wie ein Maikäfer.

Da es Herbstzeit war, so wurde es früh Abend; Frau Salander zahlte ihrem Arbeitsmann den Tagelohn aus und entließ ihn für heute. Zuletzt kam Arnold vom Turnplatz heim, ordentlich gestreckt, und so sah die Mutter bald ihre Kinder beim Scheine der alten Lampe um sich versammelt. Sie erfreuten sich des einfachen Abendbrotes, welches die Magd mit ihnen teilte, und alles war zufrieden, bis Setti, die künftige Buchhalterin, eine Streitfrage aufwarf, indem sie die Vermutung aussprach, sie werde im Geschäft eine Brille tragen müssen.

»Warum nicht gar!« rief die Magd entrüstet, »es wäre ewig schad um dein Gesicht, du würdest aussehen wie unser alte Gemeindeschreiber, wo ich her bin!«

»Viele höhere Berufsdamen, und von den besten, tragen Brillen!« versetzte das Mädchen mit überlegener Ruhe, und Netti stimmte ihr bei, mit dem Zusatze, daß es eine blaue sein müsse, das stehe schöner.

»Nimm eine rote Brille, dann siehst du das Feuer im Elsaß!« sagte plötzlich der still gelassene Arnold. Diesen sah die Mutter groß an, fast erschreckt.

»Seit wann machst du Witze, Arnold?«

Verblüfft schaute er die Mutter an, denn er wußte nicht, was sie meinte und was er Übles getan habe.

Die Magd lachte. Recht habe der Arnold, behauptete sie. Frau Marie aber faßte sich zusammen von der kleinen Verwirrung, in die sie geraten, als sie entdeckte, daß der Knabe zu Worten kam. Dem Elternsinne erscheint es schon merkwürdig, wenn die Kinder ein Sprichwort zum ersten Male gebrauchen.

Es zog jemand die Klingel, eines der Mädchen lief und brachte ein Telegramm herein, das von Basel kam und von Martin Salander aufgegeben war:

»Bin im Lande. Komme mit letztem Zug nach Münsterburg. Holt mich nicht ab, weil mit Gepäck zu tun habe und Wagen nehme.«

Nach der ebenso frohen als ernstlichen Überraschung, welche die Botschaft mit sich brachte, wurde beraten, ob dem Befehl des Vaters zu gehorchen sei, oder ob man nicht dennoch auf den Bahnhof gehen wolle; die Mutter entschied für Dableiben und Warten, weil es eilf Uhr nachts werden konnte und der Vater rascher zurechtkam, wenn er nicht die ganze Familie im Gedränge begrüßen mußte.

Dadurch gewann die Mutter Zeit, sich selbst mit dem unerwarteten Bericht nachdenklich auseinanderzusetzen. Erst vor drei Wochen hatte sie den letzten Brief Martins erhalten, worin er sich zufrieden über seine ökonomische Lage ausgesprochen mit der Ankündigung, er dürfe bereits an die Heimkehr denken, sei es für immer, sei es, um für kurze Zeit und einzelne Geschäftsausführungen, wie er vorausgesagt, noch das ein oder andere Mal den Weg zu machen; er glaube aber beinahe, es werde dies nicht nötig werden. Hierauf folgte in dem Briefe eine Schlußbetrachtung über die politische Gegenwart und Zukunft im Vaterlande, die Marie Salander nur oberflächlich beschaut und zum aufmerksameren Lesen für eine stillere Stunde zurückgelegt hatte. Sie achtete und liebte sogar den bürgerlichen Freisinn ihres Mannes und seine Neigung, für das Ganze und Kommende zu leben, worin er durch den Louis Wohlwend jetzt schon bis ins zehnte Jahr in so merkwürdiger Art aufgehalten worden.