Allein sie beanspruchte keinen Weitblick über Zusammenhang und Zukunft, sondern begnügte sich, für den Tag und Augenblick bereit zu sein.

Jetzt holte sie jenen Brief hervor, um nachzusehen, ob sie nicht doch eine Stelle übersehen, die eine nahe bevorstehende Ankunft verhieß, und auch um auf seine Worte so gut als möglich eingehen zu können, wenn er darauf zurückkam.

»Wenn Du«, schrieb er, »erfreut bist, daß wir so leidlich bald wieder auf einen guten Weg gekommen sind, so mußt Du das nicht meiner besonderen Geschicklichkeit und Tatkraft zuschreiben, sondern dem freundlichen Glücke, welches mir zur Seite ging. Allerdings habe ich auch einigen Fleiß aufgewendet, wie es der Mensch etwa tut, wenn er sich ein Ziel sichtbar winken sieht. Die Dinge, welche bei Euch zu Hause sich vollzogen haben, diese neue Verfassung, welche unsere Republiken sich gegeben haben, diese unbedingten Rechte, die das Volk ruhig, ohne irgendeine Störung sich genommen hat, alles das möchte ich in seinen glorreichen Anfängen noch sehen und mit genießen, alles ruft mir zu: komm! wo bleibst du? Und nun kann ich als unabhängiger Mann kommen, der seinen Boden hat und nichts zu suchen braucht als die Gelegenheit, zu helfen und zu nützen! Und welch ein großer Augenblick ist es, in welchem unsere alte Freiheit den großen Schritt tut! Ringsum uns hat sich in den großen geeinten Nationen die Welt wie mit vier eisernen Wänden geschlossen; zugleich aber hat sich mit dem moralischen Schritt, den wir getan, eine tiefste Quelle neuen Freiheitsmutes und Lebensernstes geöffnet, welche das Äußerste ertragen und das Härteste überdauern läßt und am Ende die Welt überwindet, wäre es auch im Untergang! Ein solches Gefühl der Selbstbestimmung, der Furchtlosigkeit und der Pflichtliebe schützt stärker als Repetiergewehre und Felswände usw.«

Da stand freilich nichts von einer schon beschlossenen Reise. Der Drang danach mußte also seither plötzlich so gewachsen sein, vielleicht auf neue verlockende Berichte oder sich verbreitende Sagen, daß Martin nicht länger hatte widerstehen können.

Er erschien denn auch, noch vor eilf Uhr, so frisch, freudig und fast stürmisch bei den Seinen, wie wenn er sieben Jahre jünger statt dreie älter geworden und ein brausender Windstoß neuen Lebens mit hereingekommen wäre. Als die Frau Marie ihn umarmte, empfand sie eine Art ehrerbietiger Scheu vor der Macht der Ideen, die in den Worten des Briefes lagen und jetzt über den Ozean her ihr den Mann in die Arme geweht hatten.

»Holla! Welch niedliche Backfische, die darf man ja kaum berühren!« rief er, als er die zwei Mädchen erblickte und sie trotzdem herzhaft küßte.

»Man sagt ihnen auch Hafenbraten!« rief Arnold, der sich auch bemerklich machen wollte.

»Ei, du Tausendskerl, Arnoldi, was sagst du da?«

»Du kommst gerade recht, Männchen!« rief die Frau, die laut lachend und voll Behagen sich niedersetzte, »dein Bub macht heut schon zum zweiten Mal eine Art Witz! Er scheint unnütze Worte aufzulesen!«

»Mag er sie auflesen, wenn er sie nur gut anbringt! Komm, Arnold, und gib mir recht patriotischen Gruß und Handschlag! Laß sehen, wie bist du gewachsen? Nicht übermäßig, doch soso für deine eilf Jahre! Und wie steht's mit der Schule?«

Er begann den Knaben abwechselnd mit den Mädchen zu befragen, während er das ihm bereitete Nachtmahl mit vielen Unterbrechungen einnahm; er merkte aber endlich, daß er in Hinsicht auf Methoden und Gegenstände nicht mehr auf dem laufenden war und daher die Kinder nicht ganz richtig fragen konnte.

Als Frau Salander es wahrnahm, säumte sie nicht länger, dem Manne den bereitgehaltenen Heimatsgruß zu bieten, nämlich die erste Kanne gärenden Weinmostes, der eben im benachbarten Wirtshause zu haben war. Sie wußte, daß er den Trank liebte, aber seit zehn Jahren nicht mehr gesehen. Zugleich trug die Magd eine Schüssel voll gebratener Kastanien auf den Tisch, womit den Kindern ihr Recht wurde zum Gedenken dieser Glücksnacht. Um ein Uhr hob Frau Marie die Tafel auf und würde es wohl früher getan haben, wenn nicht soeben ein Sonntag angebrochen wäre.

Der erhellte sich denn auch zum schönsten Herbsttage, dessen Morgenstunden Salander im traulichen Verkehr mit den Seinigen verbrachte. Einmal nur wollte er die Frau nach Wohlwend fragen, brach aber ab und sagte: »Nein, heut will ich davon nicht sprechen!«

Er aß noch mit der Familie zu Mittag; dann erklärte er unversehens, wie er nun einen tüchtigen Gang in das Volk hinaus tun wolle, an die freie Luft, und sehen, wie es sich atme. Allein wolle er den Gang tun, nur von seinen Gedanken begleitet. Im letzten Augenblicke jedoch besann er sich anders und erlaubte dem Knaben, mitzugehen. Arnold ließ sich das nicht zweimal sagen und schritt ansehnlich an des Vaters Seite aus dem Hause.

Die Jahreszeit mit den Erstlingen der Kelter belebte die Straßen. Salander machte mit dem Knaben einen weiten Weg in der Runde um die Stadt; überall hörte man Tanzmusik, welcher junges Volk beiderlei Geschlechts zustrebte. Man sah auch etwa einen Zug Schützen, die mit ihren Gewehren einer letzten Sonntagsübung nachgingen, oder eine Schar Turner mit Stäben auf der Schulter, den Tambour voran. Dazwischen mannigfaches Volk durcheinanderwimmelnd, fröhlich oder gleichgültig, einzelne mürrisch und über irgend etwas fluchend; den Hauch und Glanz aber der neuen Zeit, das Wehen des Geistes, den etwas feierlicheren Ernst, den er suchte, konnte er nicht wahrnehmen. Man hörte singen auf den Gassen und in den Schenkhäusern; es waren die alten Lieder, von denen die Leute, ganz wie ehmals, nur die erste Strophe kannten und etwa die letzte; wenn einer noch eine mittlere aufbrachte, so lallten die anderen das Lied ohne Worte mit. Auf einer staubigen Straße balgte sich ein Haufe angetrunkener Jünglinge, als ob es keine edlere Verständigung für junge Bürger gäbe, welche über die Gesetze nachzudenken gewohnt sind, über die sie mitzustimmen haben. Alle hundert Schritte bettelte ein Mann mit einer Ziehharmonika oder einem leeren Rockärmel, während der Arm auf dem Rücken lag. Kurz, es war alles, wie es vor altem an einem Herbstsonntag gewesen, und zu gewärtigen, daß später am Tage einige der freiesten Männer nicht mehr auf ihren Füßen würden stehen können.

Salander schüttelte leise den Kopf, indem er sich aufmerksam umsah. Nun, sagte er bei sich selber, alle großen Veränderungen müssen einen Übergang haben und sich einleben! Aber ich hätte geglaubt, schon die Tatsache eines solchen Ereignisses würde Land und Himmel eine andere Physiognomie machen! Am Ende ist es aber und wird wohl sein die angeborene Bescheidenheit des Volkes, seine schlichte Gewöhnung, welche es nicht leicht die anspruchsvollere Toga umwerfen läßt!

Sie gelangten jetzt vor ein größeres Vergnügungslokal, welches von volkstümlichen Elementen angefüllt schien; ein kräftiges gleichmäßiges Gemurmel war darin verbreitet, wie es so tönt, wenn der Löwe Volk bei ruhiger Laune ist. Da Salanders Knabe die Frage, ob er nicht Durst habe, unverweilt bejahte, so ging der Vater mit ihm hinein, wo ein großer Saal ganz mit jungen und älteren Männern angefüllt war, worunter wenige Weiber saßen.

Mit einiger Mühe fanden Vater und Sohn noch einen unbenutzten kleinen Tisch. Kaum hatten sie sich aber gesetzt und etwas Bier erhalten, so kamen noch zwei Leute, die ohne weiteres den übrigen Platz ei nnahmen und sich ebenfalls Bier geben ließen. Der eine war offenbar ein Süddeutscher, der andere ein Schweizer, und zwar aus dem Münsterburggebiet. Er trug Schnurr- und Kinnbart nach französischem Zuschnitt und den Hut ins Genick zurückgeschoben, um verwogener auszusehen. Sie führten ein lautes Gespräch, ohne sich um jemand zu kümmern, unverzüglich weiter.

»Wie gesagt,« meinte der Schweizer mit fast brutalem Tone, »du kennst mich! Ich bin ein Kerl, der sich nicht foppen läßt!«

»Wer will dich denn foppen? Ich gewißlich nicht!« warf der andere bescheiden ein.

»Ich sage nicht wer, ich sage es ganz allgemein! Da sieh den Brief, den mir mein früherer Meister in St. Gallen geschrieben! Jede Stunde kann ich wieder hin, wenn ich will!«

Er kramte einen Brief hervor und gab ihn dem Kameraden, der ihn las und bekannte, das sei ein schöner Brief, nicht jeder könne dergleichen Zeugnisse aufweisen, ein schmeichelhafter Brief, der Tausend, jawohl!

»Es braucht sich nichts Schmeichelhaftes zu sagen! Ich brauche keine Speichellecker, ich bin ein freier Mann, unabhängig, stolz, wenn du willst, aber ich verachte die Schmeichelei!«

»Ei, ich schmeichle ja nicht, wo werd ich denn schmeicheln! Es ist ja die lautere Wahrheit!«

»Das ist's! Aber ich geh nicht hin, ich will mich noch lang nicht binden, und ich weiß, daß er mir nur die Tochter anhängen will. Ich könnte freilich zugreifen, auch meine hiesige Kostfrau hat eine Tochter, die mir überall in den Weg steht! Aber ich will mich nicht binden! Ich will noch gar nicht Meister sein, obgleich ich meine Achtundzwanzig auf dem Buckel habe! Da müßt ich ein Narr sein und mich plagen! Lieber kujoniere ich die Meister!«

»Ja, ja, du bist halt ein strammer Kerl!«

»Wahrscheinlich! glaub's nur!«

»Ich für mein Teil habe leider Frau und Kind und bin leider auch Meister, das ist nun so, ich bin angebunden und ein armer Teufel!«

»Warum hast du so früh geheiratet?«

»Das hab ich getan, weil ich nicht mehr heim wollte; da hab ich gedacht, du heiratst hier bei erster Gelegenheit, dann bist du festgemacht!«

»Ha, ich begreif schon, daß du lieber in der Schweiz bist! Aber alle könnt ihr doch nicht hier hocken, so schön es bei uns ist!«

»Ja, ihr seid eben ganze Leut! Sapperment, ich hab's schon oft gedacht. Und dir löst keiner die Schuhriemen auf!«

»Hm! das brauchst du mir nicht zu sagen, ich nehme keine Schmeicheleien an! Aber die Fliegen lasse ich mir allerdings nicht auf der Nase heiraten!« Der Schweizer strich sich grimmig geschmeichelt den Schnurrbart und stieß mit dem Deutschen an: »Trink aus, ich zahle noch ein Glas!«

Martin Salander hörte diese Reden, die von einer gemeinen Gesinnung und zügellosen Eitelkeit zeugten, mit Verwunderung, indem er zu sich sagte: Dieser verfluchte Kerl! dieser Schreiner- oder Schustergesell hat sich ja ganz ausgezeichnet eingerichtet: Wie die Ameisen sich Blattläuse halten, die sie melken, hält sich der einen eigenen Lobhudler, einen Schwaben, wie man's hier nennt!

Er mußte nur weiter hören. Der schweizerische Arbeiter hob ein solches Selbstrühmen an, wie es nur ganz schlechtgezogene Menschen tun können, die zudem niedrig denken und fühlen. Aber je mehr er prahlte und sich selbst herausstrich, desto kleinlauter wurde der deutsche Gesell oder tat wenigstens so.