Denn Gott mochte wissen, was der Schläuling für einen Grund hatte, dem Flegel den Hof zu machen.

Allein je demütiger er sich bezeigte, desto übermütiger wurde der andere.

»Du bist einer von den Gescheitern,« rief er, »du weißt es doch zu schätzen, daß du in der Schweiz und bei einer Nation bist, wie die meinige! Schau mich an! Alles machen und ordnen wir selbst, wie wir es haben wollen, und ich bin einer davon und frage weder Gott noch Teufel etwas nach! Heut noch geh ich in eine Beratung über ein Gerichtsgesetz, das über tausend Baragraphi hat, und morgen mach ich Blauen, denn es wird lang dauern. Der Meister kann dafür aufstehen und schaffen! Anerkennst du das?«

»Ich sag es ja immer, ich schäme mich, ein Deutscher zu sein!«

»Das ist nicht ganz aus dem Weg, obgleich ihr auch energische Bursche habt! Sieh uns jetzt nur aufmerksam zu und lerne was Rechtes!«

Salander konnte nicht mehr an sich halten. Rot vor Zorn schlug er auf den Tisch und rief dem Deutschen zu: »Schämen sollte man sich, so zu reden, wenn man ein so gewaltiges Vaterland hat! Und Ihr, Herr Landsmann,« wandte er sich an den Münsterburger, »solltet Euch schämen, einen arglosen Fremden so zu bedrücken und Euch von ihm anpreisen und beloben zu lassen! Zehn Jahre bin ich in Amerika gewesen und habe nirgends einen so eitlen Tropf und Prahlhans reden gehört, wie Ihr einer seid! Da sind wir schön bestellt, wenn das junge Volk schwatzt wie die Elstern und alten Hebammen! Pfui Teufel!«

Er hatte in seiner törichten Aufregung so laut gerufen, daß die Leute an umstehenden Tischen sich drehten und zuhörten. Der Schweizer Landsmann hatte zuerst verdutzt ausgesehen; jetzt stand er schon auf den Beinen, streckte die Hand aus und rief:

»Wer seid Ihr da, wer heißt Euch, zu horchen, was die Leute reden?«

»Ich habe nicht gehorcht! Ihr seid mit Eueren Reden dahergekommen, wo ich schon gewesen bin!«

»Ihr seid dennoch ein Schleicher! Wenn Euch nicht gefällt, was wir sagen, so geht weiter! Aber Ihr seid jedenfalls ein Spion und Volksverächter!«

Er rüttelte an dem kleinen Tisch, der zwischen ihnen stand, daß die Gläser klirrten, die Umstehenden drängten sich näher heran, und einige riefen, was der wolle?

»Schimpfen tut er, wir seien eitle Tröpfe und alte Hebammen, wir junges Volk, wenn wir Freiheit und Vaterland rühmen!«

Auch der Deutsche verlor seine Gutmütigkeit und fing an, Lärm zu machen.

Salander blickte auf seinen Knaben, nahm ihn an die Hand und drückte sich unversehens durch die Leute und aus dem Saale, nicht ohne dem Tisch einen kräftigen Stoß gegeben zu haben, den jener ihm auf den Leib rücken wollte. Er hätte nicht übel Lust gehabt, die aufgewachten Dämonen oder den Löwen mit beharrlicher Rede zu zähmen; allein die Rücksicht auf sein Kind gebot ihm, allen weiteren Händeln aufzuweichen, damit er nicht gar erlebe, vor den Augen desselben mißhandelt und gedemütigt zu werden.

Voll Verdruß und Beschämung suchte er den kürzesten Weg nach Hause, war aber froh, dem Herrn Möni Wighart zu begegnen, dem er, da es noch zeitig am Tage war, gern in eine stille Wirtschaft folgte, um sich zu fassen und für den Knaben einen freundlicheren Schluß des Spazierganges zu gewinnen.

Sie trafen aber in einer Ecke des Hauses den Rechtsanwalt, welchen Salander einst mit seiner Angelegenheit betraut hatte. Der vielbeschäftigte Mann erholte sich hier bei einem Sonntagsschöppchen von der Wochenarbeit gleich einem biederen Handwerksmeister, zeigte sich indessen nach dem unerwarteten Erscheinen des Klienten freundlich bereit, den Wohlwendhandel in die Unterhaltung aufzunehmen und beim Glase zu beraten. Martin Salander schickte daher den Knaben bald mit dem Berichte nach Hause, der Vater werde in einer oder zwei Stunden nachkommen.

Leider war nicht viel zu beraten, da der Stand der Sache immer der alte geblieben. In Rio lag sie fast ganz eingepökelt. Die verantwortlichen Personen der Atlantischen Uferbank wurden eine Zeitlang verfolgt; allein sie drückten sich immer rechtzeitig von Staat zu Staat und hielten sich nur au solchen Orten auf, wo nicht nur an niemand ausgeliefert, sondern wo auch von keinem Verfolgten das auf ihm gefundene Vermögen verwahrt, überhaupt kein Recht gehalten wurde. Ein- oder zweimal ward einer verhört und über das nichtsnutzige Ergebnis ein Protokoll eingesandt, der Betreffende hingegen samt seinem Gelde, das offenbar aus der Kasse der Uferbank herrührte, freigegeben, und das war sogar auf englischem Grund und Boden geschehen und hatte so viel gekostet, daß Salander sich scheute, dem Teufel noch den Weihkessel nachzuwerfen, wie er sagte.

Doch gab es in Brasilien Geschäftsleute, welche dafürhielten, Martins berühmte Anweisung sei ihm noch in guten Treuen ausgestellt worden, weil die Uferbank in jenem Augenblicke noch nicht daran gedacht habe, aufzufliegen. Hierüber war nun eben nichts Aktenmäßiges zu erfahren.

In Münsterburg hatte Wohlwend nach langen Verhandlungen seine Gläubiger mit einigen bettelhaften Prozenten abfinden können, wobei Salanders Forderung gar nicht in Betracht kam. Das Guthaben der überseeischen Bank, welches gerichtlich in Beschlag genommen war zu seinen Gunsten, ließ sich bei dem Mangel aller gutwilligen Aufschlüsse nicht ausscheiden, und der Anwalt hielt nichts als die dunkle, nicht angenommene Anweisung in der Hand. Nachher verschwand Wohlwend aus der Gegend. Sein Haus hatte der Baumeister an sich ziehen müssen, der dabei zu Verlust kam. Der Maler des Arnold von Winkelried erhielt gar nichts.

»Ich bin überzeugt,« sagte der Anwalt, »daß er schon vor zehn Jahren gerade durch den Betrag Ihrer Bürgschaft, den Sie auf dem Platz erlegen mußten, um das Falliment herumgekommen ist; und so glaube ich, daß er auch diesmal durch Ihr Geld, das er ganz oder zum Teil in die Klauen bekam, in den Stand gesetzt wurde, sich mit den Gläubigern, wenn auch noch so elend, abzufinden; denn natürlich hat er den Löwenanteil für sich behalten. Aber dennoch, ich kann mir nicht helfen, ist er ein interessantes Subjekt, juristisch genommen. Da mich die unverbrüchlich kalte, schweigsame Haltung, die er stets der Anweisung gegenüber einnahm, ohne sich je mit einem Worte in Verlegenheit zu setzen, betroffen machte, geriet ich auf den Einfall, ein etwas ungewöhnliches Experiment mit ihm auszustellen. Ich kenne einen sehr erfahrenen Irrenarzt; der hat als Vorsteher einer auswärtigen Heilanstalt die Simulanten von Verrücktheit zu behandeln, welche ihm in Untersuchungsprozessen übergeben werden, wenn sie mit solchen Künsten dem Geständnis entrinnen wollen. Er hat eine treffliche Übung darin und bringt diese Spitzbuben in der Regel binnen zwei Tagen oder auch zwei Stunden zur gesunden Vernunft zurück, soweit sie ihnen überhaupt beschieden ist. Freilich bindet er sich nicht an die Schranken, die dem Untersuchungsrichter vorgezeichnet sind. Als der Mann zu jener Zeit sich einige Tage hier aufhielt, erzählte ich ihm von Louis Wohlwend und seinem putzigen Benehmen. Wir wurden einig, daß er als Vertreter eines fremden Beteiligten an dem überseeischen Bankhandel, der auch mit mir Rücksprache gepflogen habe, zu Wohlwend gehen und ihn unter dem Vorwand einer geschäftlichen Erkundigung beobachten und ausholen solle. Es gelang ihm, den Mann länger als eine Stunde hinzuhalten, aber nicht, ihn auf einem verfänglichen Worte zu ertappen. Es gebe, sagte der Arzt, einzelne Menschen, welche die Macht haben, ein unbequemes Faktum sozusagen in ihrem Bewußtsein so gut aus dem Wege zu räumen, daß sie nicht einmal im Schlafe, geschweige im Wachen davon sprechen, wenn sie nicht sollen. Und es seien das durchaus nicht geistig starke Leute, vielmehr solche, denen jedes Bedürfnis mangle, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. Dieser Mangel vermische sich dann mit einer ordinären Verschmitztheit und bilde sich zu einer nützlichen Kraft aus. Nur die Nähe des natürlichen Todes vermöge zuweilen den Bann zu brechen. Zu diesen scheine Herr Wohlwend zu gehören, wenn auch als merkwürdige Abart. Während der Unterredung habe er nicht krampfhaft vorsichtig getan, sondern ganz unbefangen geplaudert, aufmerksam, scheinbar, zugehört und sich gestellt, als ob er nach gutem Rat suche, den Kopf geschüttelt und schließlich gesagt: ›Es ist eine verzwickte dumme Geschichte! Ich würde Ihrem Klienten raten, es zu machen wie der andere, der Herr Salander, und selbst hinzureisen nach Rio; es muß dort noch eher etwas auszurichten sein als hier!‹ Dabei habe er sich mit einer alten Pappschachtel beschäftigt, in welcher ein Dutzend zerzauste Schmetterlinge und Käfer, von Staub bedeckt, auf einem Häufchen gelegen. Diese verjährten Lebewesen auseinandersuchend und auf frische Korkhölzchen befestigend, habe er schließlich mit einem untiefen Seufzer gerufen: ›Ja, ja, mein lieber Herr! ohne das bißchen Wissenschaft würde man oft nicht mehr den Mut zum Leben behalten in dem Wirrsal dieser Welt! Haben Sie sich nie mit Insektenkunde befaßt?‹«

Die Männer schwiegen einige Zeit, wohl um sich zu besinnen, was sich über das ärgerliche Vorhandensein eines so unbequemen Gesellen weiter denken lasse, der gewissermaßen, gleich einer Qualle, sich selbst aufzuheben vermöge, wenn er merke, daß er ausgeforscht werde.

Mittlerweile betupfte Möni Wighart mit dem Finger seine Nase, bis er unversehens rief:

»Wie ist mir denn? Da geht mir etwas im Kopfe herum, das ja ganz hierher gehört und just von der heutigen Überraschung zurückgedrängt wurde! Richtig! Nicht lang ist's her, daß ich von einem hiesigen Holzhändler hörte, er habe tief in Ungarn den Louis Wohlwend gesehen, munter wie ein Fisch, verheiratet mit einer schönen jungen Frau, und schon gesegnet mit zwei kleinen Kindern! Den Ort kann ich nicht mehr nennen.