Hier aber handelte es sich um den Vorschlag einer nicht nur absonderlichen, sondern ganz unsinnigen Einrichtung, die ein einzelner Kopf ausgeheckt und die in der Gegend einigen Anklang gefunden hatte. Martin Salander sollte im Einverständnis mit seinen Freunden dagegen auftreten. Erst hörte er die Begründung des Vorschlages und eine Anzahl weiterer Reden an, in welchen von ungeschulten, meist jüngeren Leuten statt eingehender Gründe nur immer das Wort Republik, republikanisch, Würde des Republikaners usw. vorgebracht und geschrien wurde. Dieses Pochen auf die Republik bei jedem passenden und unpassenden Anlaß hatte ihn schon lange betrübt, gerade weil er ein aufrichtiger Republikaner war in Ansehung seines Vaterlandes. Als er sich nun zu seinem Votum erhob, fühlte er sich gedrungen, eine diesfällige Ansprache vorauszuschicken, zumal ihm die anwesende Mannschaft einer wohlgemeinten Belehrung bedürftig schien.
»Liebe Mitbürger!« begann er mit möglichster Ruhe, »ehe ich meine abweichenden Ansichten von der vorwürfigen Sache darlege, kann ich nicht umhin, das auch mir teure Wort Republik zu berühren, das wir jetzt seit einer Stunde gewiß zwei Dutzend Male gehört haben. Unsere Vorfahren haben seit bald sechshundert Jahren die Republik in heißen Schlachten begründet und befestigt, ohne das Wort je in den Mund zu nehmen, und die vielen alten Bundesbriefe und Landbücher enthalten es nicht. Erst später haben es die Patrizier und Bürger der herrschenden Städte für sich angewendet, um mit dem schönen Wort ihrer irdischen Herrlichkeit einen antiken Glanz zu verleihen. Wir haben es jetzt im Sprachgebrauch, aber nicht zum Mißbrauch. Mich will bedünken, wer es immer im Munde führt und dabei auf die Brust klopft, könne ebensogut sich der Gleisnerei schuldig machen wie jeder andere Pharisäer oder Mucker! Doch damit haben wir jetzt nichts zu schaffen; nur darauf möchte ich aufmerksam machen, werte Mitbürger, daß auch der Republikaner alles, was er braucht, erwerben muß und nicht mit Worten bezahlen kann; über Naturgesetze hat die Republik nicht abzustimmen, die Vorsehung legt ihr den Plan über die dem Landwirte nützliche Witterung der Jahreszeiten so wenig zur Annahme oder Verwerfung vor als den Untertanen der Könige und diesen selbst, und der Weltverkehr kümmert sich nicht um die Staatsformen der Länder und Weltteile, die er durchbraust. Dies wollte ich mir zu bemerken erlauben, ehe ich zur Eröffnung meiner Ansicht übergehe und dabei mich mehr mit den faktischen Verhältnissen beschäftige, als bisher geschehen ist.«
Die unerwartete Predigt war nicht wohl angebracht. Nachdem schon früher ein Murren vernommen worden, unterbrach jetzt einer den Sprecher und verlangte das Wort:
Es scheine wieder einmal Eile zu haben mit der Reaktion! Kaum seien einige Jahre dahingeschwunden, so möge ein Kind dieser Landesgegend, ein ehemaliges Mitglied der Volksschule, freilich jetzt in goldenen Ketten hängend, so vermöge Herr Martin Salander das Wort Republik nicht mehr zu vertragen! Unter solchen Umständen sei denjenigen, die sich noch dazu bekennen, nicht zuzumuten, in ernster Volksverhandlung Reden der Feindseligkeit anzuhören. Wenn sonst niemand mehr zu sprechen wünsche, so trage man auf Schluß der Diskussion und Abstimmung an.
Salander, der stehen geblieben, wollte mit gehobener Stimme fortfahren. Einige, die aus der Sache nicht klug wurden, unterstützten ihn, andere, denen der Sinn seiner Rede ebenfalls zu hoch gewesen, aber verdächtig schien, ereiferten sich dagegen; es entstand ein Wirrwarr, in welchem diejenigen obsiegten, welche ihn wohl verstanden, wie Martin es meinte, aber eben das von ihm Gemeinte haßten und nicht leiden wollten.
Das Wort blieb ihm entzogen, ein Gegenantrag wurde nicht gestellt und die betreffende Sache für geschlossen erklärt. Sie fiel freilich im weiteren Verlaufe später unrühmlich dahin; Martin Salander hingegen war heute um eine Erfahrung reicher. Er verließ das Haus und das ansehnliche Dorf, ohne weiter jemand zu sehen, und anstatt die Bahn zu benutzen, auf welcher er gekommen, schlug er einen Fußweg ein, der quer durch Felder und Wälder nach Münsterburg führte.
Auf diesem einsamen Gange konnte er überlegen, inwiefern es nicht nur für den höheren Staatsmann, sondern auch für den Volksmann zweckmäßig sei, moralische Aufrichtigkeiten zu unterdrücken. Am Ende, dachte er, bin ich doch froh, daß ich es gesagt habe! Etwas bleibt davon doch hängen; und wenn sie mich nach ihrem Sinne in die Zeitungen tun, so will ich erst laut predigen, daß der Name Republik kein Stein sei, den man dem Volke für Brot geben dürfe.
Das redliche Vorhaben erhellte ihm das etwas verdrossene Gemüt; rüstigen Schrittes bestieg er die Anhöhen, die ihn noch von der Stadt trennten, und der lange Hochsommertag ließ ihn vor Sonnenuntergang die Scheitelhöhe erreichen, wo seiner eine seltsame Überraschung wartete. Auf einer frischgemähten Wiese, zum Teil von Gehölz umgeben, hatte der Wirt des nahen Hofes eine kleine Lustbarkeit aufgeschlagen, indem er im Schatten der Bäume einige lange Tische hinstellte und auf die Wiese einen großen Bottich umstürzte. Auf diesem saßen drei bescheidene Musikanten, die eine gemächliche Tanzmusik aufführten. Martin hatte die durch die stille Luft fast sehnsüchtig klingende Kunstlosigkeit schon ein Weilchen vernommen; jetzt erblickte er ein junges Völkchen, welches in lockerem Ringe und freien Gruppen um den Bottich herumtanzte, ohne allen Lärm, im goldenen Abendschein, daß die verlängerten Schatten der Tänzer auf dem grüngoldenen Boden mitspielten.
Salander ergötzte sich an dem Anblick.
Ein Bild wie aus einer andern Welt! dachte er, wie friedlich und grundvergnügt! Was mag das nur für eine Gesellschaft sein? Die meisten sind gut gekleidet, einige zierlich, andere schlichter! Junge Mädchen, junge Knaben!
Aber wie erstaunte er, als er nähertretend seine eigenen Töchter erkannte, die jetzt, im Alter von achtzehn bis neunzehn Jahren, schlank und anmutig, an der Seite von jüngeren Knaben sich drehten, die nicht minder hübsch aussahen und schon hoch aufgeschossen waren, wie die Mädchen.
Salander konnte nicht umhin, das erste Paar, Netti und ihren Knaben, mit den Blicken zu verfolgen und den muntern Tänzer näher ins Auge zu fassen. Es war, wie gesagt, ein feingelenker Bursche, dessen blonde Haarwellen im Sonnengolde flogen und schimmerten.
Indem er dem Paare nachblickte, verlor er dasselbe aus den Augen und suchte daher das andere Mädchen, Setti, das er von weitem bemerkt hatte. Und soeben kam es herangeschwebt, aber, wie ihn dünkte, mit dem gleichen Jüngling, demselben Goldhaar, wie Netti.
Die Wetterhexen haben schöne Anlagen! fuhr es ihm durch den Sinn, die verstehen es ja schon vortrefflich, die Knaben auszuwechseln! Da muß man doch ein wenig zusehen!
Er ließ das Pärchen vorbeigehen und schaute ihm genau nach, indessen von der andern Seite her wiederum Netti, immer mit dem gleichen Cherub zur Seite, anrückte, diesmal aber dicht vor ihm anhielt, da die Musik aufhörte.
»Oh, da ist ja der Vater! Hast du uns aufgesucht und gewußt, daß wir hier sind?« rief die Tochter erfreuten Herzens.
»Woher sollte ich es wissen? Ich komme ganz zufällig daher! Was ist das für ein Ball? Ist Setti auch hier?«
»Natürlich ja, und die Mutter mit Arnold auch, die sitzen dort an einem der Tische! Weil du gesagt hattest, du würdest mit dem letzten Zuge um zehn Uhr heimkehren, anerbot sie uns, auf den Berg zu gehen.«
Salander wollte nun nach ihrem Tanzgesellen fragen, wer der junge Herr eigentlich sei (der jetzt den Hut zum zweiten Male zog), als die Schwester mit dem ihrigen zur Stelle kam, so daß jener beide nebeneinanderstehen sah und sich noch mehr wunderte.
»Das sind die Herren Isidor und Julian Weidelich, Schulkameraden von Arnold!« erklärte die ältere Tochter.
»Ei so?« sagte Martin, ohne sich sogleich an den Vorgang am Brunnen im Zeisig zu erinnern, seit welchem wohl sieben bis acht Jahre mochten verflossen sein. »Auch vom Gymnasium?«
»Aber nicht von der gleichen Klasse, denn wir sind etwas jünger!« sagte Julian; »wir kommen nur in der Singstunde zusammen!«
»Also ein Paar Zwillinge, ohne Zweifel! Und woher zu Haus?«
»Wir wohnen im Zeisig, nicht weit von der Kreuzhalde!«
Jetzt dämmerte es wie eine Erinnerung in Salanders Seele; er sah nach und nach die rundlichen Bübchen mit ihren Schürzen, von denen freilich an den vor ihm stehenden Heranwüchslingen keine Spur mehr zu erkennen war.
»Und was macht die Mama? Lebt sie noch?« fragte er weiter.
»Sie ist auch dort am Tisch und ganz gesund!« lautete die Antwort.
»Das freut mich! Und ihr jungen Leute wollt also auch studieren? Und was, wenn man fragen darf?«
»Das wissen wir noch nicht! Vielleicht die Rechte, einer vielleicht Medizin!« sagte Julian; Isidor fügte hinzu:
»Wir können auch Professoren werden, wenn wir wollen, weil sie jetzt so hoch bezahlt werden, sagt die Mama; nur sollten wir hierbleiben.«
»Gut so!« erwiderte Herr Salander; »nun wollen wir aber doch sehen, wo die Mutter ist! Kommt, Kinder!«
Die Töchter wiesen ihm den Weg, und die keineswegs schüchternen Jungen folgten ihnen auf dem Fuße, während die Musikanten eine neue Tanzweise anstimmten.
Frau Marie war sehr froh, ihren Mann so unverhofft vor sich zu sehen. Sie saß, das Waldesgrün dicht im Rücken, unter einfach bürgerlichen Leuten, welche sich an den billigen Getränken und Speisen gelassen erquickten, an dünnem, aber gesundem Wein, süßer Milch, Bauernbrot, Kraut und Speckkuchen. Neben ihr saß die Frau Amalie Weidelich, so rüstig wie je, einem Kessel voll Lauge vorzustehen. Dabei gedieh sie offenbar vortrefflich; denn sie war höchlich herausgeputzt, trug einen bunten Blumenhut und eine goldene Uhr an langer Kette auf dem Leibe. Das breite Gesicht glänzte kräftig gebräunt, und ein zarter Rosenton auf den Höhen der Wangen, des vollen Kinns und der Nase zeugte nur von dem Fleiße der Frau, die ein Haus voll Wäscherinnen und Plätterinnen zu regieren hatte und deren zahlreiche Erfrischungen in Wein wie billig vorkostete. Am frühen Wintermorgen, ehe die mächtige Kaffeekanne aufrückte, gab es sogar ein Gläschen Kirsch- oder Nußwasser.
Sie begrüßte den Martin Salander sehr freundlich und ganz unbefangen.
»Denken Sie,« rief Frau Weidelich, »wir haben gar nicht gewußt, daß wir vor Jahren einmal Nachbarn gewesen sind! Nun sind's unsere Söhne in der Schule!« Sie blickte mit Stolz auf die ihrigen und suchte dann wohlwollend den Salanderschen.
»Arnold ist in das Holz hineingegangen, um Pflanzen zu suchen,« bemerkte Frau Salander, »geht, Mädchen! und ruft ihn herbei, damit wir auch ans Aufbrechen denken können. Die Sonne dort geht bald hinab!«
»Das eilt ja nicht so,« versetzte Frau Weidelich, »wir haben ja Mannsleute genug bei uns! Ja, ja, Herr Salander! Ihr habt Eueren Weg tapfer gemacht und seid jetzt ein reicher Herr, wie ich glaubwürdig finde! Aber nicht wahr, es freut einen nur, wenn man erfreuliche Kinder hat, an die man es wenden kann? Gott sei Dank, uns geht es auch ordentlich! Aber alles, was wir aufbringen, opfern wir unsern zwei Söhnen und ihren künftigen Tagen. Ich hoffe, sie werden es einbringen und von sich reden machen; denn in der Lehre und allem, was nötig ist, soll es an nichts fehlen! Wir hätten gerne im Zeisig ein neues Haus gebaut statt der alten Bauernhütte! Aber nein! sagten wir, es tut's noch, solange wir da sind, und wo die Söhne sich niederlassen und bauen werden, kann man ja noch gar nicht wissen.
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