Geschwiegen habe ich bis jetzt, weil ich mich schämte, mich von den eigenen Kindern so beiseite gesetzt zu sehen!«
»Du hast da wohl recht, arme Marie,« versetzte der Mann mit trüber Miene, »nur teile ich dies Schicksal mit dir. Aber doch möchte ich sagen, es sei nicht die Gesinnung oder übler Charakter, was die Mädchen zu ihrem kuriosen Wandel getrieben, sondern das Bewußtsein des Auffälligen und Untunlichen des ganzen Verlaufes, den ihr dummer Liebeshandel genommen hat. Eh ich sie nun zur Rede stelle, wünschte ich nur zu wissen, welcher Art eigentlich der intime Verkehr des artigen Quartetts ist; ich möchte mich nicht im Tone vergreifen, du wirst mich verstehen?«
»Die Magdalene hat mir geschworen, daß es in aller ehrbaren Sitte zugehe. Sie sähen sich höchstens des Monats einmal, und die Mädchen hielten die jungen Menschen streng in den Schranken eines sogar pedantischen Verkehrs. Wenn man nicht wie ein Sperber aufpasse, so merke man kaum, daß zwei Liebespaare zusammen seien. Die willfährige Person hat die Kinder nämlich schon mehrmals auf nächtlichen Ausgängen begleitet und bewacht, während wir ahnungslos schliefen.«
»Ich muß einer solchen Zusammenkunft unbemerkt beiwohnen und glaube, das beste wäre, alsdann je nach den Umständen mitten unter das Völkchen zu treten und die Sache zum Austrag zu bringen, jedenfalls die Burschen nach Hause zu schicken und die Mädchen gleich mit heimzunehmen.«
»Wenn es damit getan ist!« sagte Frau Salander; »es ist mir aber jedenfalls lieb, wenn du die Sache nun rasch an die Hand nimmst und zum Rechten siehst. Ich bin dem Handel nicht gewachsen, es beklemmt mir die Brust, mit Töchtern, die keine Kinder mehr sind, von Dingen zu sprechen, die nicht sein sollten. Wenn nur unser Arnold hier wäre, so wüßte ich schon, was ich täte!«
»Nun, was denn?«
»Er müßte mir als ein flotter Student, der er ist, die Schreiberlein verjagen und seinen Schwestern die tollen Ideen austreiben!«
»Ach, du gute Frau, da bist du nicht auf dem rechten Wege! Tolle Ideen sind leider ein zäheres Herz als die heißeste Leidenschaft. Übrigens kommt er ja nicht mehr als Student, sondern als Doctor juris zurück, und ich fürchte, er würde nicht mehr die frühere Laune dazu haben.«
Die Gelegenheit, einer Schäferstunde der verratenen Liebesleute beizuwohnen, ergab sich nach wenigen Tagen. Martin Salander hatte vor einiger Zeit die Töchter genötigt, aus ihrer nonnenhaften Haltung herauszutreten und sich in einen Gesangchor aufnehmen zu lassen, welcher jeweilig größere Tonwerke einübte und in Verbindung mit einem zahlreichen Orchester in einer der Stadtkirchen hören ließ. Sie hatten gute Stimmen und konnten auch ordentlich singen. Es sei barbarisch, sagte er, solcher Übung aus dem Wege zu gehen, anstatt durch dieselbe anderen Freude bereiten zu helfen und sich selbst für die späteren Jahre die Fähigkeit zu erwerben, mit Verständnis zu hören und zu genießen, wenn man nicht mehr mittun könne.
Um die gleiche Zeit traten auch die Brüder Isidor und Julian in den Chor.
Jetzt hatte Magdalene der Frau Salander die Kunde zugeraunt, daß in der morgigen Konzertprobe, welche bis spät in die Nacht dauern werde, die Salanderschen Fräulein mit ihrer Leistung ziemlich früher fertig würden und mit den Liebhabern eine Zusammenkunft verabredet hätten.
»Rate, wo sie hingehen!« sagte Marie zum Manne, als sie ihm die Ankündigung hinterbrachte. »Du errätst es nicht, und doch sind sie oft dort gewesen: in dem großen Garten, der sich hinter dem Hause deines Geschäftslokales erstreckt!«
»Die Wetterhexen! Wie kommen sie hinein? Sie werden mir doch nicht die Haus- und Kontorschlüssel ausführen und die fremden Bursche überall durchlassen?«
»Bewahre! Sie haben den alten rostigen Schlüssel gefunden, der die kleine Hintertüre in der Gartenmauer aufschließt, der Mauer, welche das große Grundstück an der entlegenen Seitenstraße eingrenzt. Die Mädchen gehen zuerst hin, zehn Minuten später machen sich die Zwillinge aus der Probe fort.«
An dem betreffenden Tage hielten sich die Töchter still zu Hause bis am Abend, rollten dann ihre Singstimmen zusammen und begaben sich richtig in die Konzertprobe. Der Vater hatte sie am Mittagtische beobachtet, etwas verlegen, denn es waren ja stattliche Frauenzimmer von guter Haltung und lang nicht mehr Kinder. Er hatte auch nichts Besonderes an ihnen gewahrt, als daß sie dem musikalischen Abend mit einiger Spannung entgegensahen, der schwierigen Aufgabe wegen.
Das Haus, in welchem er seine Geschäftsräume gemietet, war im übrigen zur Zeit unbewohnt, und Salander ging zuweilen mit dem Gedanken um, das alte Wesen zu kaufen und umzubauen, kam aber immer wieder bescheidentlich davon ab. Inzwischen hatte er einen Buchhalter und den Gewerbsknecht darin untergebracht; die hausten aber auf einer anderen Seite, als wo der Garten lag. Salander begab sich am vorgerückten Abend unbemerkt auf sein Kontor, machte bei verschlossenen Läden Licht und verweilte so lange, bis er die Stunde für gekommen hielt. Dann zog er Gummischuhe über die Füße und ging leise über den mondhellen Hof weg bis an das Gittertor des parkartigen Gartens. Vorsichtig guckte er eine Weile durch das krause Eisenzeug, hörte und sah jedoch weder einen Laut noch eine Bewegung von Menschen. Also öffnete er sachte das Gitter und betrat den Garten, der überall mit schlanken hohen Bäumen besetzt war, wie sie jetzt nicht mehr gepflanzt wurden.
Ungefähr in der Mitte stand ein altes, in Sandstein gearbeitetes und verwittertes Brunnenwerk mit Delphinen und Tritonen, von einem spärlichen Wassergeträufel umflüstert. Vor dem Brunnen dehnte sich ein geräumiger Rundplatz, von mächtigen Akazien umstanden, und da die Bäume noch unbelaubt waren, schien der Vollmond ungehindert auf den Platz wie auch auf die Alleewege, die in denselben mündeten. Dicht hinter dem Brunnen stand ein neues Gebüsch von Nadelhölzern. Martin Salander schlüpfte hinein; es verbarg ihn vollkommen. Diesen Platz beschloß er besetzt zu halten, da dem Brunnen gegenüber eine halbrunde Steinbank den zu dieser Jahreszeit einzigen Ruhesitz darbot.
Es war auch Zeit, daß der lauschende Vater seinen Standort eingenommen. In wenig Minuten hörte er ganz nahe gedämpfte, aber rasche Schritte, und die dunklen Gestalten seiner Töchter glitten wie Nachtschatten an dem Brunnen vorüber und umwandelten nebeneinander den runden Platz, ohne ein Wort zu sprechen, zwei- oder dreimal, bis sie plötzlich vor dem Brunnenbecken anhielten. Salander konnte sie nicht erkennen, sie hatten die Schleier tief über die Gesichter und um Hals und Kinn gezogen. Sie streiften die Handschuh' ab, suchten die hohle Hand unter den Delphinen mit Wasser zu füllen und schlürften es begierig in sich hinein. Zwar wehte eine milde Aprilnacht in der Luft, fast wie eine Mainacht so lau, aber doch nicht so warm, den Durst der Jungfrauen zu erklären.
Himmel, da brennt's, daß sie so löschen! dachte Martin Salander hinter seinen Koniferen; natürlich, trägt doch jede ein Elmsfeuer im Herzen!
Sie schöpften abermals Wasser und kühlten die Stirnen, nachdem sie die Schleier etwas gelüftet.
Die armen Würmer! dachte der Vater wiederum, das ist eine schwierige Geschichte!
Jetzt erkannte er auch die jüngere, Nettchen, an der Stimme, als sie nicht laut, aber vernehmlich sagte:
»O Setti, ich fürchte, unser Glück hat am längsten gedauert!«
»Warum? Wegen der schlechten Madlene?« erwiderte die ältere Schwester, freilich auch nicht ohne einen unfreiwilligen Seufzer.
»Ach, schilt sie deswegen nicht, sie ist unserer Mutter doch auch etwas schuldig! Und einmal mußte es doch kommen, jetzt ist es da!«
»Nun ist es freilich da oder wird bald kommen, ja! Nun heißt es eben kämpfen und ausharren! Oder sollen wir die liebsten Menschen, dies Wundergeschenk des Himmels, leichten Sinnes fahrenlassen und verstoßen?«
»Und kannst du dich so leichten Kaufes im Unfrieden von den besten Eltern trennen? Wenn nur die Mutter die armen Knaben für brav halten könnte! Aber ich weiß, sie tut es nicht und tut es nicht!«
»Sie hat gut sagen, weil sie alle mit unserem Vater vergleicht, der freilich ein Ausbund ist, dem nicht jeder das Wasser reicht! Und doch ist er vielleicht nicht minder ein kleiner Springinsfeld gewesen, so gut wie unsere blonden Schätze, die Goldköpfe! Und sind sie nicht jetzt schon so fleißig wie die Bienen, ehe sie nur die Nahrungssorgen kennen? Ich verlasse mich auf die nie ganz versiegende Güte der Mutter und hauptsächlich aber auf den freieren Sinn des Vaters! Ich habe neulich ein gewiß wahres Wort gelesen, daß nur ein Mann im vollen Sinne des Wortes human sein könne, human in allen Lagen des Lebens! Ich fühle wenigstens, ich als Weib bin es nicht imstande, ich will nichts weiter sagen!«
Salander war von solch ungeheuerlichen Reden seiner Ältesten so verwundert und zugleich erschüttert, daß er sich unwillkürlich an einer jungen Tanne festhielt und so ein Geräusch in dem Busche verursachte. Die Schwestern schwiegen mäuschenstill, voll Schrecken in die Finsternis hineinstarrend.
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