Als nichts weiter erfolgte, sagte Setti: »Es ist der Wind oder ein Vogel gewesen, den wir aus dem Schlafe geweckt haben. Wir wollen uns niedersetzen!«

Sie wandten sich nach der Steinbank, hatten sie aber noch nicht erreicht, als im Hintergrunde die Mauerpforte knarrte. Die Mädchen standen wie gebannt und sahen die Zwillingsherren auf den Fußspitzen die mondhelle Allee einhersäuseln. Auf dem Brunnenplatze angelangt, breiteten sie ohne Säumen die Arme nach den Liebhaberinnen aus, wurden jedoch zurückgewiesen.

»Halt, ihr Herren!« schalt Setti mit verhaltener, aber entschiedener Stimme, »es ist ausgemacht, daß ihr bei solcher Gelegenheit ungleiche Hüte tragen sollt, damit jede Dame ihren Ritter erkennen kann! Nun kommt ihr mit Hüten, die sich so gleich sehen wie zwei Eier! Welcher ist denn nun der Isidor?«

»Und welcher der Julian?« fügte Netti bei.

Beide riefen gleichzeitig: »Ich!« offenbar aus Mutwillen.

»Laßt sehen!« befahl Setti unwillig, »die Ohrläppchen her!« Sie ging auf den einen zu und griff nach seinem rechten Ohre, während Netti das gleiche mit dem linken Ohre des andern tat.

Aha! sagte Salander bei sich selbst, das Eiernudelchen und das Zuckerschneckchen! und wieder mußte er an sich halten, um sich nicht durch lautes Gelächter zu verraten. Soll ich diese meine zwei Meisterstücke mit ihren Liebhabern nicht um Geld sehen lassen?

Inzwischen hatten die Schwestern richtig herausgefunden, was ihnen gehörte, ohne sich von den Schäkern länger hänseln zu lassen. Jeder erhielt einen feierlichen Kuß und sodann auf der halbrunden Bank einen Platz angewiesen neben seiner Liebsten, worauf sogleich die Befehlsworte doppelt zu vernehmen waren: »Nicht umfangen, oder wir gehen!«

Zuerst schien die kleine Versammlung sich paarweise zu unterhalten, weshalb Salander nicht ein Wort verstand. Er sah nur, daß die Töchter aufrecht und bewegungslos saßen, wie Steinbilder, während Isidor und Julian, jeder der Seinigen bescheiden zugeneigt, sich begnügen mußten, die nur mondhellen Gesichter mit den Augen zu liebkosen.

Herr Salander wunderte sich aufs neue über die Mädchen; sie erschienen ihm wie zwei dämonische Verkörperungen einer und derselben Wahnidee, von welcher die Unglücklichen besessen wären. Wenn nun der eine der Zwillinge sterben müßte oder sonst abhanden käme, würden sie dann vielleicht durch die bloße Halbierung geteilt, oder würden sich am Ende beide an den übrigbleibenden Teil hängen, gleich den salomonischen Müttern, und das Gespenst ihrer eingebildeten Leidenschaft sie aufreiben?

Es schauderte ihn bei dem Gedanken, daß solche Seelenstörungen den so blühenden Mädchen beschieden sein könnten. Und immer saßen sie noch da und flüsterten Unvernehmliches mit den Jünglingen, die jetzt aufsprangen, von irgendeinem Worte getroffen.

Setti sprach allein weiter und so laut, daß es der Vater im Busche verstehen konnte:

»Ja, ihr schönen Brüder! Es ist geschehen, was uns weh tut! Aus gewissen Reden, die eure Frau Mutter auf offenem Markte hören ließ, müssen wir schließen, daß man uns Schwestern für reiche oder reich werdende Personen hält und somit alle Lieb und Treue dem vermeintlichen Vermögen unserer Eltern gilt!«

Die Brüder prallten zurück und standen betreten vor den gestrengen Mädchen; denn auch Nettchen wendete sich düster, obgleich mit weicher Stimme, gegen ihren Zwillingsanteil, zwar schon nicht mehr genau wissend, ob es der rechte sei, wegen des vorgegangenen Platzwechsels. Auch die Schwestern waren nämlich aufgestanden und zwischen die verwirrten Zwillinge getreten, die nach Worten suchend hin und her schritten.

»Ja, so ist es, wir sind keine Marktware!« sagte Netti und wischte sich die Augen, mit denselben trotzdem den durch das Hin- und Hergehen der Unterscheidung entschlüpften Julian zu haschen suchend. Das beliebte Greifen nach dem Ohrläppchen war durch den Ernst des Augenblicks unmöglich geworden.

Setti befand sich in gleicher Lage, jedoch mit mehr Geistesgegenwart.

»Sprich du, Isidor, wenn ihr etwas zu sagen habt!« rief sie in leidenschaftlicher Vergessenheit dennoch lauter, als sie wollte. Und sofort sich fassend, ergriff er endlich das Wort.

»Was können wir dafür, wenn unsere gute Mama sich freut, daß ihre Söhne reiche Bräute haben? Ist es eine Sünde für sie? Und wäre es selbst für uns eine Sünde, die Geliebte vor allen Nahrungssorgen gesichert zu wissen? Obgleich wir hoffen und vertrauen, sie aus eigener Kraft dagegen zu schützen! Nein, teure Elisabeth! Ich habe nicht notwendig, dein Erbe zu lieben; aber dich zu lieben habe ich notwendig, das schwöre ich dir! Lasse Geld und Gut, Eltern, Haus und Heimat und alles im Stich und komm mit mir! Auch ich verachte nicht, um der Armut oder um meiner selbst willen einzig und allein geliebt zu werden, auch ich will alle schönen Hoffnungen und was mir von den Eltern zukommen wird, dahinten lassen und mit dir bis ans Ende der Welt gehen!«

Er hatte sich während dieser Worte dem ältern Fräulein Salander zu Füßen geworfen, was bisher unter den vier Leuten noch nie vorgekommen und auch sonst gerade nicht landesüblich war. Das gleiche tat Julian und hielt eine noch feurigere Rede an Netti, in welcher er aber nicht arm, sondern reich werden zu wollen versprach, um zu beweisen, daß er nicht auf den Reichtum der Braut zu schauen brauche.

Sie hielten die Hände der Schwestern fest umklammert und bedeckten sie, durch die eigenen Worte zu Tränen gerührt, mit Küssen. Da nun jede wieder ihren Anteil sicher an der Hand fühlte und noch größere Rührung empfand, so endete der prüfungsvolle Augenblick damit, daß die Jünglinge sich emporschwangen und die schmucken Mädchen ohne Widerstand umarmten, und dies unter so heftigem Küssewechsel, wie es auch noch nie geschehen. Man sah dabei, daß die Jünglinge kräftig genug in die Höhe geschossen waren, um die auch nicht kurzen Frauengestalten zu überragen.

Das bemerkte auch Martin Salander, der unversehens zwischen den zwei Paaren stand und vielleicht noch lang hätte stehen können. Allein er legte links und rechts eine Hand auf die entsprechende Zwillingsschulter und sagte:

»Laßt's für heute genug sein, ihr jungen Herren! Und ihr artigen Frauenzimmer seid so gut, euch von ihnen zu trennen! Hier steht der Vater, wie es scheint für euch eine überflüssige Person!«

Die vier Liebesleute fuhren weit auseinander, Setti und Netti mit Schreckenslauten, Isidor und Julian aber sich bald ermannend.

»Herr Salander, es geht alles mit rechten Dingen zu, wir sind mit Ihren Fräulein Töchtern verlobt!«

»Wir sind nämlich alle volljährig, soviel wir wissen!« sagten die Jünglinge etwas patzig; Salander merkte indessen wohl, daß es mehr aus Unbeholfenheit denn aus Trotz geschah.

»Das freut mich,« versetzte er, »es überhebt mich einigermaßen der Verantwortlichkeit, wenn ein dummer Streich geschehen sollte. Einstweilen kann ich den edlen Wettstreit wegen des zu erwartenden Vermögens sogar entgegenkommend schlichten und den Kummer meiner Kinder, es möchte sich um eine schnöde Geldheirat handeln, zum voraus mäßigen, indem ich einfach die Töchter enterbe, wenn sie in Mißachtung der Eltern und unschicklichem Lebenswandel verharren sollten!«

Das Wort Enterbung lief wie eine gemeinsame sanfte Erschütterung durch die vier Verlobten. Sein harter Klang brachte die Töchter Salanders, die an dergleichen als etwas Mögliches nie gedacht, unmittelbar zum Weinen, ohne daß sich vorläufig der kürzeste Gedankengang damit verband; und die Brüder Weidelich senkten, in der Mondscheindämmerung freilich kaum bemerkbar, auf einen Ruck die Köpfe.

Niemand sprach zunächst ein Wort. Salander benutzte die Stille, die Szene zu schließen.

»Für einmal«, sagte er in ruhigem Tone, »muß ich im Namen beider Eltern nun wünschen, daß in Zukunft dieser geheime Verkehr unterbleibt; es wird für jeden das beste sein. Darf ich die jungen Herren zu dem Hinterpförtchen begleiten, durch welches sie hereingekommen sind, damit ich den Schlüssel an mich nehmen kann? Meine Töchter werden den Garten mit mir auf dem gewohnten Wege verlassen. Nehmt Abschied!«

Die weinenden Mädchen schickten sich an, dem Gebote zu gehorchen; da sie aber über dem Auftritte die Spur der Erkennens wieder verloren hatten und die Jünglinge unentschlossen, ja störrisch sich nicht rührten, reichte jede dem Unrechten die Hand, ihm mit klopfendem Herzen den Mund zum Kusse bietend. Die wackeren Jungen wollten es nicht hiebei bewenden lassen, sondern änderten rasch die Stellung, wechselten Mädchen und Hände und umarmten jeder die Seinige, worauf sie, durch die Verwirrung mürbe geworden, dem Herrn Salander folgten, indessen Setti und Netti trauernd auf die Steinbank sanken.

Nachdem ihr Vater die Zwillinge durch das Mauerpförtchen entlassen, den Schlüssel zweimal umgedreht und zu sich gesteckt hatte, kehrte er auf den Rundplatz zurück.

»So, nun wollen wir zur Mutter gehen,« rief er den Töchtern zu, »sie grämt sich zu Hause! Es ist zehn Uhr vorbei!«

Er ging ihnen voran in das Haus und das Kontor, wo noch das Licht brannte. Während sie sich dort so gut wie möglich von dem erlebten Schreck erholten, sann Vater Martin über den Zuspruch nach, den er ihnen halten sollte und auch wollte; je länger er aber die so vollkommen ausgereiften Jungfrauen betrachtete, desto schwerer dünkte es ihm, da viel hineinzureden. Er beschränkte sich daher auf ein paar anzügliche Brocken, die er hinwarf, um der Mutter den intimern Teil der nötigen Vorstellungen zuzuschieben.

»Ist das nun«, sagte er, vor ihnen stillstehend, »die große Rarität, die ihr euch ausgesucht habt? Denkt ihr großen Staat damit zu machen? Zwei Männer, die ihr nicht voneinander unterscheiden könnt, wenn es etwas dämmerig ist? Dem ließe sich zwar abhelfen durch eine Bedingung im Ehekontrakt, daß sie die Bärte ungleich tragen sollen, zum Beispiel der eine einen Vollbart, der andere einen Schnurrbart. Allein genauer überlegt, haben sie leider noch gar keine Bärte und bekommen am Ende niemals solche, die dicht genug wären, unterschiedliche Charaktere daraus zu schneiden!«

Der Spott brachte nicht die gewünschte Wirkung hervor; er betrübte nur die Mädchen auf das tiefste, daß sie wieder zu weinen anfingen, nachdem sie schon sorgfältig die Augen getrocknet hatten.

»O lieber Vater,« schluchzte Setti, »es nützt gar nichts, es hängt nicht von uns ab! Solange sie uns treu bleiben, lassen wir nicht von ihnen!«

»So?«

»Ja, Vater!« rief jetzt Nettchen, »wie können wir unsere Wahl denn anders rechtfertigen als durch die Standhaftigkeit, mit welcher wir den armen Menschen die Treue halten?«

Da haben wir den starren Wahn! dachte Salander.

»Und was die größere Jugend unserer Verlobten betrifft,« fuhr die ältere Tochter nicht ohne Zierlichkeit fort, »so bedürfen sie nicht nur liebevoller, sondern auch mit einem mütterlichen Sinne begabter Frauen, die sie wohltätig zu lenken verstehen! Ihre eigene Mutter hat nicht diejenigen Eigenschaften, welche zur Bezähmung so kecker Burschen erforderlich wären. Wir aber, Netti kann es bezeugen, haben schon einen veredelnden Einfluß über sie gewonnen, sie hören auf uns und lassen sich gefallen, was wir ihnen sagen.«

Nettchen gab ungesäumt ihr Zeugnis ab:

»Es ist wahr, was Setti sagt, sie sind schon viel manierlicher, selbst gesitteter, als da wir sie kennenlernten!«

Das läßt sich bei Gott hören, es mag etwas dran sein! dachte der umhergehende Herr Vater; dann müssen die Gesellen aber ziemlich ungezogen gewesen sein! Laut sagte er: »Wir werden heute mit dieser Materie nicht fertig! Kommt, wir wollen gehen!«

Er löschte das Licht und führte die bedrängten Fräulein unbemerkt auf die Straße. Schweigend schritt er neben ihnen her; daß er nicht fröhlich wie sonst an jeden Arm eines der Kinder nahm, dagegen zwei- oder dreimal einen Seufzer vernehmen ließ, machte ihnen das Herz auch wieder schwerer, je näher sie der Wohnung kamen. Und als sie in die Stube traten, wo die Mutter ganz allein am Tische saß und strickte, fühlten sie, daß sie trotz ihres schönen und klugen Mädchenalters einen tiefen Fall getan. Sie suchten jedoch nicht etwa in ihr Schlafzimmer zu entfliehen, sondern setzten sich still an eine Wand und blickten traurig auf den Boden.

»Guten Abend, Frau!« sagte Salander, »da haben wir die Vögel eingefangen! Sie bitten dich um Verzeihung und willigen ein, daß alles weitere Ausfliegen einstweilen unterbleibe! Denn sie waren mehr unbesonnen als leichtsinnig und jedenfalls mehr leichtsinnig als böse!«

»Das fehlte noch, daß es mehr bös als leichtsinnig heißen müßte!« erwiderte Marie Salander ohne aufzublicken.

Die den Gegenstand dieses kurzen Gespräches bildeten, waren solche Worte nicht gewöhnt und hätten nie geglaubt, daß es dergleichen für sie gäbe.