Wehrlos verharrten sie im Schweigen.

»Wenn ihr noch Hunger habt,« sagte die Mutter, »so könnt ihr in die Küche gehen; hier hat man längst abgeräumt. Das Bett werdet ihr auch wohl finden, alt genug seid ihr!«

Sie standen auf und gingen hintereinander her in die Küche, nahmen dort jedoch nur das nötige Licht und stiegen ohne zu essen eine Treppe hinauf in ihr Schlafgemach. Über ihnen auf dem Estrich lag mäuschenstill in ihrem Bett die Magd, die sich kurz vorher weggeschlichen.

Unten strickte die bekümmerte Frau fort, ohne eine Masche fallen zu lassen.

»Du hast sie also wirklich beisammen getroffen?« fragte sie den Mann.

»Gewiß, ja! Zuerst kamen die Kinder anmarschiert, im hellen Mondschein, dann die vertrackten Weidelichsjungen; ich steckte in dem Gebüsch hinter dem Brunnen, sah alles, was vorging, und hörte beinahe alles, was gesprochen wurde. Ich muß dir nun zuerst sagen, daß ich, abgesehen von der Heimlichkeit, mit welcher sie uns hintergingen, nichts sah oder hörte, was ehrbaren Liebesleutchen nicht erlaubt ist; ich möchte behaupten, ich sah und hörte nicht einmal alles Erlaubte, soviel ich mich wenigstens, mit deiner Genehmigung zu sagen, aus unserer eigenen Praxis erinnern kann. Die Kinder scheinen eine merkwürdige Gewalt über die Bengel zu haben –«

»Nimm es mir nicht übel, Martin,« unterbrach ihn Marie, »aber du sprichst ganz verkehrt und närrisch! Das Gegenteil ist wahr, die Bengel üben ja die unglückliche Gewalt über die Kinder!«

»Nicht so, Marie! Diese Gewalt, die du meinst, die sitzt auch in den Mädchen selbst, die Jungens würden sie nie haben; es ist das Wahngebilde, an dem sie leiden! Doch laß dir erzählen, wie es herging!«

Er beschrieb ihr so genau und anschaulich als möglich den ganzen Hergang, indes sie bald ungläubig, bald verwundert, aber immer unwillig aufschaute, den Kopf schüttelte und wieder strickte.

Plötzlich warf sie den Strumpf auf den Tisch.

»Ich komme nicht darüber hinweg! Sie haben mich als Mutter beleidigt; ich bin nie gewöhnt gewesen, seit ich die Kinder besaß, und war von Hause aus nicht gewöhnt, von gewissen Dingen zu reden und zu sagen, die nicht sein sollen. Ich glaube auch jetzt noch, daß gutgeartete Kinder am besten durchkommen, wenn sie die Leute im Haus, namentlich Vater und Mutter, offen und tadellos wandeln sehen, ohne sie darüber predigen zu hören. Und nun diese jahrelange Verschlagenheit zweier Töchter gerade gegen die Mutter!«

»Das mußt du nicht von der Seite allein nehmen. Es ist in Gottes Namen einmal geschehen, ein neuer Fall von Menschengeschichten, wo sollen diese herkommen, wenn es nicht immer neue Erscheinungen gibt? Vielleicht ein lumpiges Lustspiel, vielleicht ein erbaulich ernsthaftes Schicksal!«

»Und wie steht es nun! Wie soll es werden?«

»Wie ich dir sagte, sie erklären, von den Zwillingen nicht zu lassen, sie meinen, aus ihnen zu machen, was sie wollen und was gut sei! Daß aber der Verkehr in bisheriger Weise aufhört, dessen bin ich ziemlich sicher. Denn als ich ein Wort von Enterbtwerden fallen ließ, fühlte ich deutlich, daß die Herrschaften mürbe wurden. Ich mußte es tun, weil ihrerseits bereits das Wort Volljährigkeit gefallen war.«

Frau Salander wurde in diesem Augenblicke totenbleich und griff nach der Seite, wo das Herz hängt.

»Enterben!« wiederholte sie mit jammervoller Stimme, »kannst du denn das wegen einer solchen Sache?«

»Eigentlich wohl nicht leicht,« erwiderte Martin möglichst ernsthaft, »ein guter Advokat könnte indessen einen unordentlichen Lebenswandel, fortgesetztes Mißachten und Hintergehen der Eltern, Kinderundank u. dergl. schon so herausdrechseln, daß es durchzusetzen wäre vor nicht allzu scharfsichtigen Richtern.«

Maria Salander packte ihr Strickzeug zusammen. Es rannen ihr Tränen über die Wangen, die sie nicht beachtete.

»So weit ist es schon gekommen,« sagte sie, indem sie die Lampe löschte und den Leuchter zum Schlafengehen ergriff, »so weit, daß in diesem Hause ein solches Wort ertönen muß! Zwei Kinder verlieren!«

Martin stützte und führte die schwankende Frau und tröstete sie im Gehen:

»Ei, bedenke doch, ich müßte ja tot sein, wenn das Testament eröffnet und angegriffen würde! Wenn ich unter dem Boden dann den Prozeß gewänne, so könnten du und dein Sohn Arnold den Mädchen alles wieder zurückgeben!«

Isidor und Julian Weidelich waren sehr erschrocken und kleinlaut in der dunkeln Straße hinter der Gartenmauer gestanden und dann einig geworden, nach dem Singhause zurückzukehren, ihre Abwesenheit eher zu vertuschen. Sie setzten sich, als sie hörten, daß immer noch geübt wurde, in ein Trinkstübchen, in welchem sich pausierende Sänger erfrischten, und sie taten, als ob sie die ganze Zeit über vorhanden gewesen wären. Dann schlugen sie erst den Weg nach dem Zeisig ein, wo im elterlichen Hause für jeden ein artiges kleines Studierzimmer gebaut und eingerichtet war.

Nach und nach fanden sie Worte, von dem Ereignis dieses Abends zu reden, wurden aber nicht recht klug daraus. Für sie ragten vornehmlich zwei Dinge aus dem Abenteuer heraus: die Anfechtung ihrer verlobten Bräute wegen der Liebe aus Habsucht, ehe der Vater kam, und die Drohung des letzteren mit Enterbung der Töchter. Beide Punkte standen in unheimlicher Beziehung zueinander. Die Fräulein wollten nicht des Vermögens wegen geliebt sein und der Vater ihnen dasselbe entziehen, wenn sie sich überhaupt lieben ließen. Aber konnte denn der Alte sie wirklich enterben? Über diesen Gegenstand waren sie als angehende Notare schon von einiger Erfahrung, der betreffende Abschnitt des Erbrechtes ihnen geläufig. Das Ergebnis des Ratschlages fiel auch ziemlich verständig aus: sie fanden, es dürfte besser sein, sich den Geboten des Herrn Salander zu fügen und die Zusammenkünfte mit den Töchtern einzustellen, um die Frage jedenfalls nicht zu verschärfen. Sie hielten dafür, daß die Mädchen auch keine Neigung hätten, die unbestimmte Gefahr herauszufordern, und von der Volljährigkeit allein nicht leben könnten, wenn es zum Bruche mit den Eltern käme; und sie fürchteten die Mutter noch mehr als den Vater.

Dagegen wollten sie einen schriftlichen Verkehr einführen und so die Zeit erwarten, die ihre Aussichten und Hoffnungen krönen würde. Der Treue der beiden Geliebten waren sie ja sicher, wie ihrer eigenen, und indem sie über diese Seite der Angelegenheit ein paar jugendliche Redeblumen von leichter Bauart in die Verhandlung streuten, nahm diese den verwunderlichsten Ton von der Welt an. Und doch war es ihnen auch hiemit Ernst, da es ja sonderbar hätte zugehen müssen, wenn so junge Gesellen keines dankbaren Gefühles für die Hingabe eines solchen Schwesternpaares fähig gewesen wären.

Zu Hause wollten sie den Vorfall verschweigen, damit die Mama nicht neue Verwirrung stifte.

 

IX

 

Im Salanderschen Haushalt schien der gute Hausgeist der Unbefangenheit irgendwo krank zu liegen. In Erwartung eines schweren Tages hatten Setti und Netti, die in jener Unglücksnacht nicht geschlafen, einander gelobt, dem Gerichte der tiefverletzten Mutter mit kindlicher Bescheidenheit, aber auch mit wandelloser Treue dem erwählten Geschicke standzuhalten.

Als sie am Morgen in der Familienstube erschienen, sagte niemand ein Wort, und auch als der Vater fortgegangen und sie mit der Mutter allein waren, schwieg diese beharrlich von der Sache, gab auch nicht den geringsten Anlaß, den die Töchter zu einer Beichte hätten ergreifen können. So ging es den Tag hindurch, den folgenden Tag und alle anderen Tage. Die Mutter begrub ersichtlich für sich das Unheil in die Nacht des Schweigens, um es so zu vernichten, im Glauben, daß es gelingen müsse. Der Vater tat auch, als ob er es rein vergessen hätte, und nur die Magdalene flüsterte ihnen einmal zu, sie dürfe nicht davon sprechen, wenn sie nicht fortgeschickt werden wolle.

Arnold schrieb wie gewohnt nach Hause, bald an die Eltern, bald an die Schwestern. Die Briefe an Vater und Mutter wurden offen herumgeboten, kein Wort verriet darin, daß er etwas von dem Kummer der Mutter wußte, und was er an die Schwestern schrieb, war ebenso ahnungslos und brüderlich ungeniert wie von jeher.

Wenn sie ausgingen, so bemerkten sie nicht die kleinsten Zeichen einer Überwachung; man fragte gar nicht, wo sie hinwollten, und noch weniger sah ihnen jemand nach. Kehrten sie zurück, so kümmerte sich niemand darum, wo sie gewesen seien, wenn sie es nicht selbst sagten.

So wußten diese stattlichen Hochjungfrauen nicht, woran sie waren, und gingen wie Schatten in ihrem durchsichtigen Doppelgeheimnis herum. Sie fühlten sich um so unbehaglicher, je mehr ein ruhiges Einvernehmen sich herzustellen, eine versöhnliche Ausgleichung in alter Gewohnheit neu zu befestigen begann; denn die Mutter sah bei alledem so aus, wie wenn ein einziges Wort die Finsternis wieder verbreiten könnte.