Eines Mittags saß Salander mit den Töchtern allein bei Tisch, weil Frau Marie verreist war, dem Leichenbegängnis einer auf dem Lande verstorbenen Verwandten beizuwohnen. Salander zog einige Privatbriefe aus der Tasche, die er vom Bureau mitgebracht, und beschaute sie näher.
»Da ist auch einer von Arnold,« sagte er, »was schreibt er?« und legte den geöffneten Brief auf den Tisch. Setti nahm das Papier und las. Arnold berichtete, daß er leidlich doktoriert habe, soundso viel Geld draufgegangen sei und daß er nun von der Erlaubnis Gebrauch zu machen gesonnen sei, über London und Paris heimzureisen und dazu ein Jahr zu verwenden.
»Das ist mir recht wegen der Sprachen, in denen er noch zurück ist,« sagte der ehemalige Sekundarlehrer, »für das andere gebe ich ihm nicht soviel. Wenn er von England spricht, wird er Dschury sagen, und Schüri, wenn er von Paris erzählt, mehr kann er in einem halben Jahre kaum erschnappen, was die Rechte betrifft!«
Inzwischen hatte Setti den Brief hingelegt, ohne ihn fertig zu lesen, und hielt das Taschentuch vor die Augen. Gleich darauf auch Netti, die den Brief aufgenommen und ebenfalls hineingeblickt.
»Was gibt es denn? Was habt ihr?« fragte der Vater betroffen, »warum lest ihr nicht zu Ende?«
Er nahm den Brief an sich, suchte den abgebrochenen Schluß und las laut: »Nun grüße ich auch treulichst das holde Geschwisterpaar! Der Kürze halber habe ich, um mir den teuren Zwiebegriff schneller vor die Seele zu führen, die Namen Setti und Netti zusammengezogen und denke nur ›Snetti!‹, so stehen sie vor mir! Aber wie steht es denn mit ihnen? Ist noch keine Verlobung in der Luft? Sie sind nachgerade keine Hasenbraten mehr! Mir kann's recht sein, wenn ich sie noch hübsch zu Hause treffe; denn bei so wählerischen Stiftsdamen weiß der Kuckuck, was sie einem für Schwäger aussuchen!«
»Ja so!« brummte der Vater gutmütig, »hätt ich gewußt, was da steht, so blieb der Brief in der Tasche. Aber tut die Augentröckner weg und eßt eure Suppe!«
Seine Art zu reden tröstete die Mädchen ein bißchen; es war doch das Freundlichste, was sie in der ganzen Zeit gehört, und sie aßen mit dem Vater zu Ende.
Als die Magd nichts mehr im Zimmer zu tun hatte und Martin seinen Wein gemächlich austrank, während die Frauenzimmer nach bestehender Sitte des Hauses noch so lange ihre Plätze behielten, nahm er in gemütlichem Tone wieder das Wort.
»Da das leidige Verhältnis, das uns alle behext, durch Arnolds arglosen Scherz einmal berührt worden ist, so wollen wir vernünftig ein bißchen weiter davon reden! Ihr haltet euch sehr achtungswert; wir glauben, die Mutter und ich, daß ihr den Umgang mit den jungen Leuten wirklich meidet; hinwieder wissen wir nicht, woran wir mit der Zukunft sind und ob ihr selbst etwas mehr im klaren seid? Vielleicht, dachten wir, finden sie sich doch allmählich zurecht und sich selbst wieder, und zwar ohne die zwei seltsamen Beisterne! Da kommt neulich der Laufknabe von der Post und erzählt, er habe auch die Fräuleins am Schalter gesehen. ›Haben sie Briefe hingebracht?‹ frag ich, und er sagt: ›Nein, sie haben Briefe geholt, die für sie dort lagen.‹ – ›Gut, ich weiß schon, was es ist‹, gab ich zur Antwort. Verkehrt ihr also poste restante mit ihnen?«
»Ja!« entgegneten die Töchter beide zugleich.
»Und in welchem Sinne? Der hoffenden Zuversicht oder der entsagenden Freundschaft? Ihr seht, daß ich mich in dem Sprachgeiste auszudrücken weiß, der in der bewußten Korrespondenz walten wird!«
»Unsere Freunde entsagen nicht, solange sie zweier Herzen sicher sind, die es nicht von ihnen verlangen!«
Dies sagte Nettchen, und Setti fügte hinzu:
»Wie wollten wir freilich die Hoffnung aufgeben, der geliebten Personen verlustig gehen und dagegen für das ganze Leben erst recht eine spottende Nachrede eintauschen?«
»Gut getrumpft!« sagte der Vater, mit innerer Trauer der Gattin gedenkend, die mit ebenso fest eingewurzeltem Gegensinne in derselben Stunde in einem fernen Trauerhause am Tische sitzen und vom Leichenmahle genießen mochte.
»Liebe Kinder!« fuhr er nach einem kurzen Schweigen fort, »wie lang wollt ihr denn eigentlich auf das vermeintliche Glück warten? Wenn ich nur das wüßte! Ja, wenn ihr zwanzig Jahre alt wäret, wie die Liebhaber, dafür diese von eurem Alter, das ließe sich hören!«
»Immer das gleiche!« riefen die Töchter durcheinander, »habt doch Geduld, in wenig Jahren werden wir mit ihnen gleich alt scheinen, sie so alt wie wir und wir so jung wie sie, wenn wir nur erst verbunden sind! Sie werden Männer sein! Übrigens bekommen sie schneller die ihnen gebührende Stellung, als manche glauben, und dann hat das Elend ein Ende!«
»Trumpf!« rief der Vater lachend, aber voll Verwunderung über die Reden der Töchter; »das tönt ja alles wie im heroischen Zeitalter, wo Männer und Frauen ewig jung blieben! Wir wollen es abwarten, und mögt ihr nicht eine Zeit erleben, wenn es nach eurem Willen geht, wo ihr wirklich heroischer Kräfte bedürftet! Jetzt wollen wir die Sitzung aufheben. Heute abend muß ich in eine Versammlung wegen der kommenden Wahlen gehen und kann nicht wegbleiben. Da wäre es artig von euch, wenn ihr statt meiner euch auf den Bahnhof begeben und die Mutter abholen wolltet. Ich weiß, es tut ihr gut, wenn sie euch unerwartet dort trifft!«
Die Töchter versprachen, es zu tun, und erröteten leise aus geheimer Freude über den erhaltenen Auftrag.
Martin Salander ging in sein Geschäft, arbeitete ein paar Stunden darin und dann noch eine gute Zeit in der Wahlsache, indem er Briefe und andere Papiere durchging und dies oder jenes anmerkte. Es handelte sich um die Ermittelung einer Vorschlagsliste für die Kreiswahlen in den Großen Rat des Standes Münsterburg, die Durchmusterung der bisherigen Inhaber der Stellen, den Ersatz abgehender, den Eintritt neuer Mitglieder. Salander freute sich immer noch seiner Unabhängigkeit von allen Wahlverlegenheiten in Ansehung seiner eigenen Person, indem er trotz seiner oft in Anspruch genommenen Dienste und mehrfachen Zumutens dem förmlichen Amts- und Titelwesen ferngeblieben.
Jetzt wollte es ihm aber heimlich bedünken, daß er, wie so mancher andere auch, vieles doch am besten in dem gesetzgebenden Rate vertreten und sagen könnte, als am entscheidenden Orte; denn was half es ihm, wenn er in freien Vereinen und Zusammenkünften eine Meinung durchsetzte gegen irgendeinen Gegner, der dann in der Behörde saß und dort allein das Wort hatte.
Er brachte aber nicht über sich, was doch gang und gäbe ist, sich selbst vorzuschlagen, d.h. vertraulich den andern Führern zu eröffnen, daß er Lust verspüre, gewählt zu werden; und um nicht den Anschein davon zu gewinnen, nahm er ausdrücklich an der Leitung der heutigen Zusammenkunft teil, während diejenigen wegblieben, die genannt zu werden wünschten oder wußten, daß es geschah. Freilich nicht alle; denn einige wiederum erschienen freimütig und setzten sich breit hin.
Im Saale zu den Vier Winden, der den verschiedensten Parteien und Vereinen als Sammelort diente, fand Salander zwei lange Tische von dichteren Gruppen und einzelnen Bürgern ungleich besetzt, während ebenso viele Männer noch an den Wänden herumstanden und miteinander sprachen. Unter diesen trieben sich die Einberufer umher, hier und da Rücksprache nehmend oder einen der schwierigeren Kannengießer bearbeitend. Auch Salander gesellte sich zu ihnen. Er war der Haupturheber des Gedankens, in versöhnlichem Sinne beiden Hauptparteien Rechnung zu tragen; er selbst gehörte der demokratischen an, deren Macht seit einiger Zeit im Volke zu wanken begann, und so hielt er es für ebenso klug als billig, den Altliberalen wieder mehr Raum zu gönnen. Namentlich war er ein Verehrer der modernen Liebhaberei der Minderheitenvertretung geworden, der nicht nur politische Philosophen, sondern auch allerlei praktische Leute anhingen, welchen der schöne Grundsatz nächstens selbst nützlich werden konnte, nachdem sie bislang keine anders gesinnte Fliege zugelassen hatten, noch ferner zuzulassen gesonnen waren.
Da die Tische sich allmählich dichter bevölkerten, gab der Vorsitzende das Zeichen des Beginnes. Salander, durch die noch Herbeieilenden schreitend, begegnete einem jungen Manne, der ihm bekannt schien und ihn durch Hutabnehmen ehrerbietig grüßte, was er höflich erwiderte. Er mußte einen der Tische entlang gehen, um seinen Platz am Kopfende desselben unter den Anführern zu finden. Auf demselben Wege stieß er abermals auf den jungen Mann, der die gleiche Höflichkeit wiederholte und den Hut zog, diesmal mit einer Verbeugung. Der scheint seinen Hut gar nicht ablegen zu wollen, dachte er eben, als es ihm wie Schuppen von den Augen fiel; das waren ja die Zwillinge! Ei nun, sie zeigten doch eine wackere Teilnahme an den Landesangelegenheiten; das steht jungen Leuten gut und beweist einen ernsten Sinn! Wenn sie nichts Schlimmeres treiben, so ist es so übel nicht mit ihnen beschaffen!
Durch diese Gedanken und die Erinnerung an das mittägliche Gespräch mit den Töchtern halb zerstreut, nahm er endlich seinen Platz ein, das Schöppchen Wein bestellend, das der Ehrbarkeit halber in dieser Gegend des Saales nur ganz langsam, gleichsam unmerklich getrunken werden durfte.
Die Verhandlungen nahmen ihren Anfang mit einer politischen Rede des Vorsitzenden, der Wahl der Stimmenzähler und anderer Funktionäre, worauf der Umgang der Vorschläge eröffnet wurde. Einige gedruckte Zettel, von den bestellten Berichterstattern mündlich erläutert, lagen zugrunde, und fünf bis sechs unbestrittene Namen waren bald erledigt. Aber schon beim siebenten Namen, als der Präsident die Frage stellte, ob ein weiterer Vorschlag gemacht werden wolle, erschallte aus dem Hintergrunde eine kräftige Stimme, die rief:
»Ich schlage vor Herrn Martin Salander, Kaufmann in Münsterburg!«
Und aus einer andern Ecke des Saales her rief einer ebenso laut:
»Unterstützt!«
»Ah! Gut so! Schon längst verdient!« u. dergl. murmelte es an den Tischen, und jeder sah sich nach den Rufenden um.
Der Vorsitzende aber klingelte an seinem Glase, und als es still geworden, sprach er:
»Ich möchte die Versammlung fragen, ob wir jetzt schon auf neue Namsungen eintreten oder vorerst die noch vorhandenen Vorschläge bereinigen wollen, die voraussichtlich rasch und mit Einmut abgetan sind!«
»Ich beharre auf meinem Antrag!« rief die erste Stimme, und das laute »Unterstützt!« aus der andern Ecke folgte unmittelbar wieder darauf. Der Präsident verkündigte:
»Es ist vorgeschlagen, Herrn Martin Salander als siebentes Mitglied unseres Kreises im Großen Rate auf die Wahlliste zu nehmen! Ich bitte den Antragsteller, sich zu nennen!«
»Notariatssubstitut Isidor Weidelich!« erschallte es vom alten Orte her noch lauter, und von der Unterstützungsecke her schrie der andere Rufer, offenbar Bruder Julian:
»Bravo! bravo!«
Alles sah sich wieder um.
»Was ist das für ein Weidelich? Welcher ist es? Der junge Mensch dort?« hieß es.
Der Präsident klingelte wieder und rief:
»Wem es also beliebt, daß auf den Wahlvorschlag des Herrn Isidor Weidelich schon jetzt eingetreten werde, der hebe die Hand auf!«
»Auf!« schrien nun eine Anzahl junger Leute, die Hände in der Luft schwenkend, und ihnen folgte eine Hand um die andere etwas zögernd; als es aufhörte, ersuchte der Vorsitzende, die Stimmen zu zählen. Es ergaben sich sechsundfünfzig Hände.
»Es scheint dies die Mehrheit zu sein! Oder wird das Gegenmehr verlangt?«
Zwei oder drei erhoben die Hand, ließen sie aber wieder sinken, als sie sahen, daß sie allein blieben.
»Es ist also beschlossen, die Vorschlagswahl des Herrn Martin Salander sofort vorzunehmen.
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