heißt's, wart, ich hab's im Carnet!«

Er zog das Büchlein aus der Seitentasche seines Rockes.

»Ja, Schadenmüller, Xaverius & Comp.«

Wighart sah ihn mit aufgesperrten Augen an, bis er das Wort fand.

»Schadenmüller, sagst du? Weißt du, wer das ist?«

»Jedenfalls eine rührige Firma, wenn auch vor sieben Jahren noch unbekannt!«

»Unglücksmann! Es ist Louis Wohlwend und kein andrer!«

Martin Salander erhob sich langsam hinter dem Tische, ganz fahl und blaß geworden, setzte sich aber gleich wieder und sagte:

»Es scheint, daß jeder Mensch einen Ölgötzen hat, der allerorts wieder dasteht und ihm entgegenglotzt. Denkst du am wenigsten dran, so ist er da. Das ist mir jetzt eine angenehme Lage! Wer sagt indessen, daß er nicht zahlen werde? Er wird sich erholt und emporgeschafft haben, wie, kann mir gleich sein! Meine Atlantische Uferbank ist doch auch nicht von Stroh und weiß, was sie tut. Am Ende will das Schicksal, daß ich wieder zu meinem früheren Vermögen gelange, wenn der Bursche so zu Kräften gekommen ist!«

»Unglücksmann noch einmal! Der, welcher Schadenmüller heißt, ist schon vor zwei Jahren fort, sein Nachfolger, Wohlwends Gesellschafter, vor sechs Monaten, und vom jetzigen alleinigen Vertreter der Firma, Wohlwend, heißt es seit gestern, er habe wieder einmal eingestellt, die Proteste regnen nur so und das Kontor sei geschlossen!«

Salander sprang auf und mitten in die Stube, wo er unentschlossen sich umschaute, seine Reisetasche rückend. Er ermannte sich bald ein wenig und seufzte: »Die arme Frau! Ich hatte ihr verlorenes Weibergut so vergnüglich ausgeschieden in meinem Buche und um die Zinsen vermehrt, um es sofort nach der Heimkehr sicherzustellen! Nun hat's der Wohlwend zum zweiten Mal! Ein Kerl, der so falsch singt und noch schlechter deklamiert!«

Der gute Mann wischte sich ein paar bittere Tränen von den Augen. Wighart, von Teilnahme und Entrüstung ungewöhnlich bewegt, stand bei ihm und redete ihm zu, keine Zeit zu verlieren.

»Vor allem«, sagte er, »mußt du stehenden Fußes in die Stadt hinunter, Wohlwends Kontor aufsuchen und dich überzeugen, wie's dort steht. Es ist in der Winkelriedsgasse.«

»Wo ist denn die? So eine gab es früher nicht.«

»Es ist eine vornehme, stille Seitenstraße im Westend; keine Verkaufsläden, nur blanke Metallplatten an den Haustüren und daneben, da wirst du Schadenmüller & Comp. gleich finden. Ich würde mit dir gehen; allein es wird vielleicht besser sein, wenn ich unterdessen deine Frau von deiner Ankunft benachrichtige und auf irgendeine zweckmäßige Weise vorbereite.«

Salander ergriff ihn beim Arm. »Nein!« rief er, »gehe nicht hin! Ich muß es selbst über mich nehmen. Seit ich in Europa bin, habe ich der Frau nicht geschrieben, weil ich sie immer überraschen wollte und nicht dachte, so lang in England hingehalten zu werden, wo ich noch einiges zu ordnen und Zukünftiges einzuleiten hatte. Nun kann ich es nicht über mich bringen, die arme Frau einer fremden Mitteilung auszusetzen. Es wird besser sein, wenn sie mich zuerst nur einmal wiedergesehen hat.«

»Wie du willst! Dann komm ich aber mit dir und führe dich zum Notar, wenn es nötig ist, wie ich glaube; denn das nächste wird sein, für den Protest zu sorgen. Am Ende hast du den Regreß auf deine Ozeanische Uferbank, oder wie sie heißt. Die Notariatskanzlei befindet sich nämlich auch nicht mehr, wo sie vor sieben Jahren gewesen. Es nimmt mich nur wunder, woher sie in Rio so bedeutend mit Wohlwend in Verkehr stehen!«

Hiemit rief Wighart die Wirtsmagd, bezahlte die kleine Zeche, und die Männer eilten abwärts nach dem schönen Stadtteil mit der Winkelriedsgasse.

 

III

 

Während der Zeit hatte der Knabe im sogenannten Zeisig noch eine Weile auf die Mutter gewartet und war dann wiederholt ihr eine Strecke entgegengegangen, aber immer wieder auf seinen Standpunkt zurückgekehrt, aus Furcht, sie zu verfehlen; denn der kürzeste Weg von der Kreuzhalde nach der Stadt führte eigentlich nicht hier durch, weshalb die kleine Familie von den Leuten im Zeisig auch nicht gekannt war.

Frau Salander hatte zum ersten Male diesen Weg genommen, weil am andern Wege der Bäcker wohnte, welchem sie zum ersten Male die aufgelaufene Monatsrechnung nicht berichtigen konnte und das eine der Töchterchen, welches sie nach Brot geschickt, unverrichteter Dinge heimkam. Das hatte sie, nachdem sie in stündlicher Erwartung des Gatten sich schon lange kärglich beholfen und gespart, wie ein Schimpf getroffen, und die harte Not war plötzlich gleich einem einsilbigen Gerichtsboten eingekehrt.

So unversehens war der schweigende Gast da, daß sie den Kindern am heutigen Tage nichts als etwas leere Milch zu verteilen imstande gewesen, am frühen Morgen; sie selbst hatte noch nichts genossen. Und heute gewärtigte sie dazu die beinah einzige Familie, welche bei schönem Wetter zuweilen noch gegen Abend kam, um den Kaffee im Freien zu trinken. Andere Gäste hatte sie seit Wochen nicht gesehen und sie besaß deshalb auch kein bares Geld mehr. Anstatt dieser Tatsache lange nachzusinnen, brauchte sie ihre Gedanken, mit den Kindern durch den Tag zu kommen, weil die andere Tatsache, die Ankunft des Mannes, auch bevorstehen mußte.

Sie lief daher nicht, von ihrem beweglichen Besitztume zu verkaufen oder verpfänden, sondern ging zum bekannten Kleinbäcker in die Stadt, von welchem sie sonst die Semmeln und dergleichen Gebäck bezogen hatte, und dem sie nichts schuldete. Ohne viel Worte zu verlieren, erhielt sie den gewünschten Vorrat von Brötchen und Hörnchen, ebenso beim Krämer ein Tütchen gerösteten Kaffee und den dazu erforderlichen Zucker, bei einem andern ein Stück guten Schinken und ein halbes Pfund frische Butter, und überall war sie wohlangesehen, weil sie eine stille, zurückgezogene Frau war, die sonst nie borgte. Nur der Bäcker in der Nähe hatte nicht mehr getraut, weil er am Wege wohnte und sah, daß fast niemand mehr hinaufging, und klüglich das Ende bedachte.

Trotz des willigen Entgegenkommens der Leute in der Stadt nahm sie aber nicht ein Lot mehr von den Sachen, als das augenblickliche Bedürfnis erheischte, obgleich es in einem hingegangen wäre, wenn sie sich auf einige Tage versehen hätte. In diesem unscheinbaren Zuge mochten drei Dinge sich vereinigen: ihre redliche Bescheidenheit, die Gewohnheit des Vertrauens auf die nächste Sonne und wahrscheinlich nicht am wenigsten ein feiner, wenn auch unbewußter Sinn, den nächsten Zweck zu schonen.

So kam denn Frau Marie Salander, einfach und sauber gekleidet, ohne Blumen auf dem Hut und eher schmal als breit, den Korb am Arme, endlich den Weg über den Zeisig herangegangen.

»Gelt, du hast lang warten müssen, Arnold!« rief sie dem Knaben entgegen, der sehnlich aus dem Scheunenwinkel hervorsprang, wo er schließlich sich auf ein Mäuerchen gesetzt hatte. »Ich habe die Eßwaren erhalten, wenn ich sie auch nicht bezahlen konnte. Nun wollen wir schnell heimgehen, damit wir bereit sind, wenn wirklich Leute kommen! Gott sei Dank muß ich heut noch nicht sagen, es sei nichts mehr im Hause!«

»Aber wenn sie alles aufessen,« sagte der Knabe, »müssen wir dann weiter hungern?«

»Ei, sie essen ja nie alles, sie nehmen höchstens die Hälfte zu sich, und mit dem übrigen müssen wir uns bis morgen begnügen, wo ich ja dann etwas Geld habe! Kommen sie aber nicht, so trinken wir lustig den Kaffee und essen, soviel wir mögen, und morgen ist auch ein Tag!«

Bald erreichten sie die höhergelegene Kreuzhalde, wo sich die Aussicht auf die Stadt und die weite Landschaft öffnete, in der sie lag oder liegt. Sogleich kamen die beiden Schwestern Arnolds herbei, Setti und Netti, der Mutter den Korb abzunehmen; sie waren zehn und neun Jahre alt, von derselben feinen Blässe wie der Bruder, nämlich der Blässe gesunder Kinder, welche von einem unwilligen Kummer befallen sind, der ihnen unerklärlich ist. Doch glänzten die Augen der Mädchen ungeduldiger und gieriger als die des Knaben, der gelassener Art zu sein schien.

Frau Salander ging den Kindern voran ins Haus, und sie folgten höchst neugierig. Ohne Verzug entledigte sie sich des Hutes und legte eine reine weiße Schürze um, worauf sie den Korb auspackte, das Brotgebäck auf einem größeren Teller aufbaute, die Butter auf einen kleineren legte, den Schinken schnitt und eine Schüssel damit bekleidete, daß sie sich als reichlich gefüllt darstellte. Dies alles, ohne daß sie einen einzigen Bissen nach dem Munde zu führen sich vergaß, um den armen Kindern, welche die Ellenbogen rings auf den Tisch gestützt zuschauten, nicht ein böses Beispiel zu geben.

»Frisch, Kinder!« sagte sie mit einem leidlich muntern Lächeln, »nehmt euch zusammen, habt Geduld! Alles nimmt ein gutes Ende, wenn der Vater kommt! Jetzt müssen wir noch ein Weilchen zusehen, wie andere essen; wir wollen doch für den Spaß probieren, ob wir trotzdem etwas tun können! Habt ihr die Ferienaufgaben wirklich fertig, nichts mehr zu rechnen, zu schreiben oder auswendig zu lernen? Nehmt einmal eure Bücher vor! Ich glaube fast, die Sprüche und Liederverse bleiben euch gerade wegen dieses merkwürdigen Hungertages besser im Gedächtnis als sonst.«

Die Mädchen wollen vom Lernen nichts hören; Setti nannte das Hohlgefühl ihres Leibes altklug einen Magenkrampf; Netti fürchtete Kopfweh zu bekommen, und beide wollten lieber häkeln, wenn sie durften, da jedes für den Vater einen Geldbeutel angefangen hatte. Nur Arnold faßte ein tapferes Vertrauen zu der Schwindelei der guten Mutter und erklärte, die Gelegenheit zu benutzen und sein schweres Lied für die nächste Kirchenlehrstunde in Angriff zu nehmen; es enthalte vier Verse von je zehn Zeilen, von denen jede sich so lang strecke, daß sie keinen Platz habe und das Ende umgebogen sei, wie die Schlinge für die Krammetsvögel.