Die Mutter billigte alles und eilte in die Küche, den Milchvorrat bereitzustellen, den sie am Morgen streng abgeteilt und für alle Fälle weggeschlossen hatte. Dann holte sie aus dem Schranke den Honigtopf hervor, der infolge der schlechten Begangenschaft leider nur zu viel der Süßigkeit enthielt. Sie füllte daraus eine hübsche Kristallschale, und zugleich fiel ihr bei, daß ein Löffel des dicken kräftigen Saftes den Kindern ihr junges Leiden für eine kurze Zeit wohltätig verhüllen dürfte. Gedacht, getan, ging sie mit dem Topfe von einem Kinde zum andern, hieß es den Mund aufmachen und strich den Honig hinein.

Ermüdet ließ sie sich endlich auf einen Stuhl nieder und überblickte mit einem Seufzer die sonderbare Anstalt, mit der sie das dunkelwaltende Schicksal bestreiten oder wenigstens aufhalten wollte. Nicht nur in Feindesheeren, Erdbeben und Gewitterstürmen und allgemeinen Notausbrüchen fährt ja dasselbe einher; auch in den unscheinbarsten Vorgängen im stillen Leben eines Haushalts tritt es jählings zerstörend, ehrenrührig hervor. Wenn die heutige Vorsorge scheitert oder am Ende doch eine Beschämung herbeiführt, kann sie alsdann die Vorspiegelungen wiederholen, daß sie eine wohlversehene Wirtin sei? Schon vor so vielen Wochen muß das Schiff, das ihren Mann und sein Gut trägt, abgefahren sein; wenn es nun untergegangen ist? Mit diesem bloßen Gedanken vergaß sie sich selbst und ihr Geschick, einzig und allein das dunkle Bild des langentbehrten Gatten suchend. So in sich selbst versunken wie aus dem Grund eines Meeres, schrak sie auf, als draußen Stimmen hörbar wurden und die Gartenglocke erscholl, auch die Kinder schon an die Fenster liefen und verkündeten, daß die Professorsfamilie da sei.

Auf dem Hof- oder ehemaligen Gartenland der Wirtschaft war von einem nun verschwundenen Hain großer Bäume eine einzige Platane stehengeblieben, welche mit ihren ausgebreiteten Ästen einen letzten Tisch überschattete. Eine Familie, bestehend aus einem weißhaarigen Herrn und seiner Matrone nebst zwei ältlichen Töchtern, hatte bereits am Tische Platz genommen. Die Kinder am Fenster aber riefen: »O weh, es ist noch einer dabei, ein langer Fremder, der gewiß den Schinken aufißt!«

Und wirklich war so ein langer Überzähliger noch herangestiegen, bis Frau Salander unten anlangte und die Herrschaft begrüßte.

»Wie geht es Ihnen, Frau Salander?« empfing sie der alte Herr, »Sie sehen, wir bleiben Ihnen treu, solang noch ein Baum dasteht! Bringen Sie uns den üblichen Kaffee samt Butter wie Elfenbein und dem flüssigen Bernstein! Dies für die Damen!«

»Papa meint mit dem Bernstein den schönen Honig, den Sie uns das letzte Mal vorsetzten!« belehrte die Frau Professor die Wirtin, welche diese Erklärung ebensooft gehört hatte als das Gleichnis, allein dermalen aus Zerstreutheit zu lächeln vergaß.

»Sodann, was uns Männer betrifft,« fuhr der Herr Professor fort, »so trinken wir allenfalls zusammen eine Flasche jenes süß abgekelterten roten Fünfundsechzigers, der durch dies Verfahren zwar kein Goethe, wohl aber ein Schiller geworden ist und angenehm prickelt, sobald er das Theatrum der menschlichen Zunge betreten hat, um seine Spiele aufzuführen. Dazu nehmen wir der Beschäftigung halber einige Schnitten geräucherter Rindszunge, wenn Sie davon noch so zarte besitzen wie neulich.«

»Zunge ist leider nicht mehr da,« sagte die Frau leicht errötend, »dafür könnte ich mit Schinken aufwarten.«

»Auch gut, bringen Sie uns Schinken!«

Sie eilte ins Haus, Kaffee und Milch zum Kochen aufzusetzen, und übertrug die Aufsicht den Mädchen, während sie mit weißem Zeug und Geschirr den Tisch so sauber deckte, als wäre das Haus im besten Flor. Bald standen auch die Speisen einladend dazwischen, nur noch der Wein fehlte. Im Keller bewahrte Frau Salander noch die letzten zwei Flaschen des erwähnten Weines, sonst war überhaupt kein Getränke mehr vorhanden als ein halbes Dutzend Flaschen abgezogenen Bieres, von welchem sie nicht wußte, ob es noch trinkbar sei. Den Wein hingegen hatte sie für den Mann beiseite gelegt, auf den sie harrte. Mit einem Seufzer nahm sie eine der Flaschen und trug sie auf, ersorgend, daß nicht nur die zweite, sondern auch eine dritte verlangt werden könnte und so eine neue Gefahr erwuchs der Offenbarwerdung ihres Unvermögens. Dann trug sie den dampfenden Kaffee hinaus und versäumte nicht, eine Flasche kühlen Wassers vom Brunnen zu holen.

Schon aber führte die Sorge sie ins Haus zurück, um die Kinder, welche aus der Türe kamen, dort festzuhalten und in die Stube zu bannen; denn sie befürchtete, die Ärmsten würden sich mit gierigen Blicken um die Gäste herumstellen und den gesprächigen Herren, sowie der kritischen Neugier der Frauen ihren Hunger verraten. Doch konnte sie nicht hindern, daß die Kinder Kopf an Kopf durch das Fenster schauten und keinen Blick von dem Tische der sich rüstig erfrischenden Leute verwandten. Sie sahen, wie die Frauen ihre Butterbrötchen schnitten und bestrichen, zu Munde führten und im eifrigen Gespräche das gleiche Geschäft immer von neuem vornahmen. Mit mehr Wohlgefallen bemerkten sie, daß der alte Herr seinen Teller bald zurückschob, um seine Zigarrentasche auszukramen; aber mit Schrecken sahen sie, wie der lange Unbekannte mit dem breiten Maule und dem Bocksbarte in den Speisen herumwütete und eine förmliche Fabrik von Schinkenbrötchen betrieb, die er auf seinem Teller im Kreise nebeneinander legte und dann eines nach dem andern ganz in den Mund steckte. Kinder schauderten, und auch der Mutter wurde es nicht wohler, als durch die Schuld des Unheimlichen die Weinflasche früh leer stand und der Professor nach der zweiten rief.

Ein neues Unheil tat sich in einer Kinderschar auf, die lärmend, mit abgerissenen Zweigen und Ruten, über den offenen Hofraum gezogen kam und alsbald vor dem Tische der kleinen Gesellschaft gaffend anhielt. An der Spitze der Truppe standen die Zwillinge Isidor und Julian, die Hände auf dem Rücken und ihre beschürzten runden Bäuchlein vorstreckend; sie beschauten sehr aufmerksam den Tisch, und die Blicke saßen auch auf den Schinkenbrötchen und fuhren mit ihnen in den Rachen des Breitmäuligen hinunter, bis dieser mit dem Geschäfte zu Ende war. Der Professor stach mit der Gabel von dem Vorrat in der Schüssel ein Scheibchen heraus und hielt es dem Zwilling Isidor vor die Nase mit den Worten: »Mund auf, Augen zu!« Dieser gehorchte unverweilt und erschnappte den Bissen samt dem Brothäppchen, das jener ihm dazu in den Mund steckte. Das gleiche geschah mit dem kleinen Julian und so abwechselnd mit beiden, die immer zuvorderst standen, bis der letzte Rest des Schinkens verschwunden war. Mit den übrigen Kleinen machten es die zwei Fräulein ebenso, indem sie ihnen Butterbrötchen in den Mund steckten und sich über die drolligen Gesichter freuten, die sie dazu machten. Binnen kurzem waren alle Teller rein und nichts Eßbares mehr auf dem Tische zu erblicken.

Frau Salander stand hinter ihren Kindern am Fenster und sah, wie auch hier der Welt Lauf erging und die einen verschlangen, was den anderen bestimmt war. Es dunkelte ihr vor den Augen, was indessen auch davon herrührte, daß eine Regenwolke unvermerkt heranzog und einzelne Tropfen bereits gegen die Scheiben schlugen. Und im Laube der Platane rauschte ein unwirscher Luftzug. Die Gesellschaft erhob sich sehr eilig. Der alte Herr pochte mit dem Stock auf den Tisch und verlangte von der herbeieilenden Frau schleunige Rechnung. Ehe sie antworten konnte, rief er: »Nun habe ich auch noch die Börse vergessen oder gar verloren!« Vergeblich in allen Taschen suchend, nahm er den langen Gastfreund in Anspruch: »Herr Doktor! Helfen Sie uns aus der Not! Sind Sie vielleicht mit Spießen bewehrt?«

Der war aber schon so vielfach, kreuz und quer, in einen gelblichen Plaid eingewickelt, daß er mit großer Mühe suchte, zu seinem Geldtäschchen zu gelangen. Es dauerte dem Alten zu lange.

»Lassen Sie,« rief er, »wir müssen springen, wenn wir noch den nächsten Droschkenplatz erreichen wollen! Ich bezahle das nächste Mal, liebe Frau, Sie kennen uns ja!«

»Bitte, Herr Professor, das macht ja gar nichts, kommen die Herrschaften nur gut nach Hause!« sagte Frau Marie Salander mit guter Haltung, jedoch die Leute, die sich nicht mehr umschauten, mit etwas unsicheren Schritten bis zum Ausgange des Grundstückes begleitend.

Zurückkehrend sah sie noch, wie die Zwillinge die Zuckerbüchse vollends ausräumten und mit ihrem Gefolge gleichfalls davonstoben.