Der Honig war auch ausgelöffelt.
Ihre eigenen Kinder hatte sie vorhin eingeschlossen und den Schlüssel eingesteckt; so stellte sie jetzt ohne deren Hilfe das sämtliche Geräte auf das große Kaffeebrett, legte das Tischtuch ordnungsgemäß zusammen, nahm es unter den Arm, trug das Brett mit einigem Klirren ins Haus und ging dann zu den Kindern hinein, die an einem Häuflein standen.
Als sie sahen, daß die Mutter mit Kummer auf einen Sessel sank, unterdrückten sie den Ausdruck ihrer kindlichen Ansprüche auf die Vorsorge und den Schutz der Mutter, die sich heute zum ersten Male als unzuverlässig erwiesen. Ihr leises Weinen wurde durch das Rauschen eines tüchtigen Regenschauers übertönt, der jetzt herniederfiel und die Luft verdunkelte, und so blieb es eine gute Weile still in dem dämmernden Gemach. Frau Marie benutzte den Augenblick, ihre Lebensgeister zu versammeln. Sie beschloß, bis zuletzt auszuhalten und mit den Kindern für diesmal lieber ungegessen schlafenzugehen, als den Ruf des heimkehrenden Mannes durch weiteres Verraten ihres zerrütteten Zustandes zu gefährden.
Der Himmel selbst schien ihr zu Hilfe zu kommen, denn es ward heller um sie her; die sinkende Sonne beherrschte wieder das Feld und hatte die Regenwolke den Berghang hinauf an den Waldrand getrieben, wo sie als eine dunkle graue Wand hängenblieb, auf welcher der breite Fuß eines Stückes Regenbogen sehr kraftvoll leuchtete, indem er auf einer frischbetauten funkelgrünen Waldwiese stand. Es war ein so starker Farbenschimmer, wie man ihn nur wenige Male im Leben sieht und dann fast immer im Gedächtnis behält. Da die Erscheinung ziemlich nah aufglühte, sah man links und rechts ein paar schlanke Birken oder Eschenbäumchen sich abheben und deren Kronen in dem bunten Glanze verfließen.
Ohne langes Überlegen benutzte die Mutter sofort das schöne Farbenspiel, die Gedanken der Kinder womöglich von ihren Kümmernissen abzulenken und zu beschäftigen, bis vielleicht die Dunkelheit heranschliche und nochmals den lieben Schlaf brächte. Für diesen Fall wollte sie zugleich die Kinder mit den Schilderungen einer herrlichen Schmauserei unterhalten und ihre Phantasie ganz damit anfüllen, weil sie schon hatte sagen hören, daß hungernde Leute, wenn sie im Schlafe von guten und leckeren Dingen träumen, die Nacht soweit ganz leidlich durchkommen; und sie hoffte sogar selbst ein bißchen mitzuschmausen.
»Seht doch, welch ein schöner Regenbogen!« rief sie und weckte damit die Kinder aus ihrem Brüten. Sie guckten auf und staunten die Pracht mit großen Augen an, die darüber trocken wurden.
»Die haben's dort jetzt besser als wir, wenn das Märchen wahr ist!« rief sie wieder.
»Wer denn? Wer denn?« die Kinder.
»Nun, die kleinen Leutchen aus dem Berge! Habt ihr noch nichts davon gehört? die Erdmännchen und -weibchen, die so alt werden, daß sie eine kleine Unsterblichkeit auf ihren Buckelchen haben, natürlich nur im Verhältnis; denn sie sind nicht größer als ein mittlerer Finger. So um tausend Jahre herum sollen sie alt werden. Wenn sie nun merken, daß ihr Geschlecht ausstirbt in einer Gegend, so kommen die letzten hundert Leutchen in den besten Feierkleidern zusammen und halten ihren ewigen Abschiedsschmaus unter einem Regenbogen oder vielmehr im Erdgeschoß desselben, das ein wahrer Zaubersaal ist. Seht nur, ihr könnte von außen merken, wie das inwendig in allen Farben glitzern muß! Auch noch aus einem andern Grunde sollen sie einen solchen Abschied feiern; nämlich wenn das große Volk im Lande anfängt auszuarten und dumm und schlecht zu werden und die gescheiten Leutlein unten ein betrübtes Ende voraussehen, dann beschließen sie auszuwandern und dem Ende aus dem Wege zu gehen. Auch dann kommen sie in vielen Regenbogen zusammen und sind noch ein Stündchen vergnügt. Sei dem wie ihm wolle, so weiß ich nicht, welchen Anlaß wir hier vor uns haben. Es wird sich wohl um ein Aussterben handeln, und da sind es, wie gesagt, höchstens hundert Männlein und ihre Frauen, die dort sind. Den ganzen Tag haben sie in ihren Felsstuben, im Waldesdickicht und an den verborgenen Bachquellen gebacken und gebraten und gebraut und alles Gute vorausgeschickt, und nun sind sie einspaziert, jeder sein goldenes Schüsselchen in einem seidenen Säcklein mit einem Quästlein auf dem Rücken tragend, für uns nicht größer als ein alter Batzen, für Zwerglein aber ein gehöriger Teller. Lange Tische sind mit dem feinsten Tuche bedeckt, das über einige Dachschindeln gespannt ist. Da ziehen sie in feierlichem Zuge herum. Voran marschieren zehn geharnischte Ritter in rotgesottenen Krebsnasen als Brustpanzer und die übrigen Schalenringe als Arm- und Beinschienen umgelegt; als Helme haben sie zierlich gewundene Schneckenhäusel auf den Köpfen. Sie tragen die alten Silber- und Goldkannen und andere Kleinode des Geschlechtes. Wie die Erdleutchen nun um die Tische herumgehen, zieht jeder seine Schüssel aus dem Säcklein, legt sie an seinen Platz und setzt sich dahinter, und jeder schüttelt seinem Nachbar ernsthaft die Hand. Freilich folgt nun ein desto fröhlicheres Essen, daß die goldenen Teller, die feinen Messer und Gabeln nur so klingen. Zuerst kommt der delikateste Reisbrei mit Rosinchen, belegt mit kleinen Bratwürstchen, die aus Feldlerchen und zartem Ferkelfleische gemischt und gehackt sind. Herrlich sind diese Würstchen geröstet. Je drei oder vier Mann haben zusammen eine Bowle vor sich, nämlich einen prächtigen reifen Pfirsich, aus welchem der Kern genommen, das dadurch entstandene Loch aber mit Muskatwein gefüllt ist. Ihr könnt euch denken, wie sie mit ihren Löffelchen da hineinbohren!«
So fuhr sie mit eifriger Mühe fort, nicht nach den Geboten der Wahrscheinlichkeit, sondern nach ihrer Kenntnis der kindlichen Gelüste das Bankett der Wichtelmännchen auszumalen, bis sie nichts mehr wußte und darum den Schluß herbeiführte, zumal der Regenbogen verblichen war und der letzte Abendschein der Dämmerung wich.
»Haben sie nun genug gegessen und getrunken und von ihren jungen Tagen, mittleren Jahren und alten Erfahrungen gesprochen, so stehen sie unversehens alle miteinander auf, schütteln sich abermals, und zwar durcheinandergehend, die Hände und sprechen etwas kleinlaut: ›Wünsche wohl gespeist zu haben!‹
Plötzlich aber suchen sie das Loch, wo sie hereingekommen sind, und fangen an, hinauszudrängeln, sich auf die Fersen zu treten und in den Rücken zu knuffen, bis alle verschwunden sind und die Tische im Saal mit allem, was darauf steht, verlassen sind. Ein einziges lediges Weiblein, das allerjüngste von etwa zweihundert Jahren, was bei unsereinem einer Person von ungefähr zwanzig Jahren gleichkäme, ist noch dageblieben. Es hat die Pflicht, das ganze Geschirr zu reinigen, trocken zu reiben und in eine eiserne Truhe zu verschließen, die sie an der Stelle, wo der Regenbogen stand, in den Boden vergräbt. Hierbei helfen ihr die zehn Ritter, die mittlerweile draußen noch zurückgeblieben sind und ihre Pfirsichbowlen ausgeschlafen haben. Und wie Bauern, wenn sie Marksteine setzen, vorher rote Ziegelscherben als sogenannte Zeugen in die Grube legen, so werfen sie die Krebsschalen mit hinein und gehen dann auch fort, sich schlafen zu legen.
1 comment