Was tut aber nun das letzte Weiblein? Es nimmt das Säcklein, worein sein eigenes Goldschüsselchen gewesen, auf den Rücken, einen Stecken zur Hand und wandert seelenallein in die Ferne, um einem andern Volk dieser Art das Gedächtnis des ausgestorbenen zu überbringen. Es soll schon vorgekommen sein, daß eine solche Person sich in der Fremde noch glücklich verheiraten konnte bei einem jüngeren Geschlechte.«
Hier schwieg Frau Marie Salander, doch etwas betroffen über die Flunkerei, die sie den Kindern vorgemacht, während diese sich noch ein Weilchen still verhielten und dem Märchen nachschauten, das wie der Regenbogen verduftete. Kaum sahen sie noch das letzte Fräulein mit Stab und Schüsselchen in Gras und Ackerfurchen dahinziehen.
Da richtete sich die Mutter auf; von einem Einfall ergriffen, schritt sie rasch auf ihr Kommodenschränklein los, öffnete die Türlein, zog die Lädchen und aus einem derselben eine kleine Schachtel hervor, welche etwas Goldschmuck enthielt. Als Brautgeschenk ihres Mannes war der bescheidene Hort unantastbar und nicht das, was sie suchte. Aber unter anderm Kleinzeug lag auch ein Papierwickelchen dabei, das sie packte und aufmachte. Ein glänzendes, goldenes Regenbogenschüsselchen trat zutage, nämlich eine uralte Hohlmünze, Brakteat genannt. Solche Münzaltertümer wurden ehedem gern in wohlbestehenden Familien aufbewahrt und als besondere Gunst nur etwa zu Patengeschenken verwendet. Auch Marie Salander hatte das Stück, das sie in Händen hielt, bei der Taufe ins Wickelband bekommen und nun sich unvermutet an dessen Besitz erinnert. Auf den vertieften Grund war ein unvollkommener Mannskopf geprägt und neben dem Bilde in zerstreuten Zeichen die Inschrift Heinricus rex. Auf dem Papierschnitzel stand von der Hand Salanders die Notiz geschrieben, der Goldwert betrage zehn Franken, der Verkaufswert könne aber auf das Zehnfache und höher steigen.
Sie wunderte sich, daß sie nicht früher an diese Zuflucht gedacht. Beinahe kam sie sich vor, als ob sie das ausgewanderte Erd- oder Bergweibchen wäre, das im fremden Lande ein Trüppchen Kinder erworben hat und nun die ererbte Goldschüssel verkaufen muß, um sie füttern zu können.
»Nun ist's gut!« sagte sie zu ihnen, »noch diese kurze Nacht heißt es gefastet oder vielmehr geschlafen; morgen früh aber reisen wir in die Stadt, verkaufen den Denkpfennig und leben wie an der Kirchweih!«
Die Kinder blickten sie zweifelhaft an; sie mochten die Rede für eine Fortsetzung des Märchens halten, dessen Glaubwürdigkeit mit dem wieder erwachenden Hunger abzunehmen schien.
Da klang die Hausglocke. Es war Martin Salander, der nach allen Umtrieben wegen seines Vermögens noch seine Reisekoffer und Kisten auf dem Bahnhofe geholt und durch zwei Männer hatte herbringen lassen, um nicht ganz ohne Habe bei den Seinigen zu erscheinen eine seltsame, aber verzeihliche Selbsttäuschung.
Noch ehe die Frau Licht angezündet hatte, stand er in der offenen Stubentüre und sagte in das Halbdunkel hinein, in welchem er nur undeutliche Gestalten erkannte, mit bewegter, nicht lauter Stimme: »Guten Abend!«
Seinen Ton erkennend, erhob die Frau die Arme und ging ihm, vom Schreck gelähmt, langsam entgegen und fiel ihm um den Hals, nicht lange danach vor Freude weinend.
»Ach, mein lieber Mann!« sagte sie mit halb erstickten Lauten, »kommst du? Bist du endlich da?«
»Ja, meine gute Marie! und ich fühl es, eh ich dich sehen kann, du bist meine treue, liebe Hälfte, jeder Zoll mein Weib!« sagte er, als er sie fest in den Armen hielt und ihre Schultern, ihre Arme streichelte und die schönflächigen Wangen.
Sie schloß ihm den Mund mit Küssen und rief, ohne den Mann fahren zu lassen: »Kinder, zündet doch die Lampe an, damit der Vater euch sieht!«
Das taten die beiden Mädchen, und als es hell wurde, standen sie mit dem Bruder in der Reihe. Die Mädchen waren zur Zeit der Trennung zwei und drei Jahre alt gewesen und besaßen noch ein schwaches Erinnerungsbild des Vaters; sie erkannten ihn deshalb bald mit Hilfe ihres kindlichen guten Willens. Traulich und neugierig schauten sie ihn an. Der Knabe Arnold hingegen war erst einjährig gewesen und konnte den Vater nicht erkennen, soviel die Mutter von ihm erzählt hatte. Er schlug daher verschüchtert die Augen nieder und blickte dann doch wieder von der Seite auf den fremden Mann, der ihm jetzt entgegenschritt, ihm das Kinn aufhob, dann den Töchterchen, eh er alle in die Arme nahm und abküßte, sie immer von neuem betrachtend.
»Du gute Frau,« flüsterte er, sie abermals umarmend, »wie liebe, hübsche Kinder hast du mir da herangezogen! Und wie froh bin ich, auch noch etwas mithelfen zu dürfen!«
»Sie sind auch brav!« sagte sie ihm ins Ohr und voll Vertrauen nachdem sie ihn während der Kindererkennung bei Licht gesehen, wie er von der Tropensonne wohl gebräunt, aber kaum älter erschien als vor sieben Jahren, und nichts Fremdes an ihm haftete.
Die Männer, welche das Gepäck gebracht, klopften an der Türe, ihre Abfertigung begehrend. Frau Salander wies den Platz für die Sachen an, der Mann lohnte sie ab und entließ sie, worauf er in veränderter Gedankenrichtung, doch in guter, fast vergessensfroher Laune rief:
»Aber nun, Frau Wirtin! Was hast du etwa zu essen und zu trinken für deinen Mann? Ich habe Hunger wie ein Wolf und seit heut morgen nicht viel genossen!«
»Wir alle haben heute, aber gewiß zum ersten Mal, noch gar nichts gegessen!« sagte die Frau mit einem Lächeln, das ihm die Bitterkeit versüßen sollte; »wir sind just, eh du kamst, vollständig abgebrannt; allein sei sicher, wir haben noch keine Schulden gemacht, als für einen Monat Brot-Milchgeld!«
Mit starren Augen maß er Frau und Kinder der Reihe nach, sprachlos, doch innerlich seufzend: Das kommt immer besser! bis er rief:
»Aber um des Himmels willen, Marie, warum hast du mir denn seinerzeit geschrieben, ich solle dir kein Geld mehr schicken, du könntest es machen?«
»Weil ich es früher auch konnte,« erwiderte sie, »und weil ich wünschte, daß du allen deinen Erwerb zusammenhalten und um so wirksamer damit schalten möchtest!«
»Das kann uns jetzt nichts helfen, wir müssen essen, vor allem die Kinder und du! Ihr habt also nichts im Hause?«
»Nicht einen Bissen!«
»Dann wollen wir augenblicklich in die Stadt, ein gutes Wirtshaus aufsuchen und ein Nachtessen bestellen. Ihr armen Tröpfe, jawohl! Eilt euch, zieht an, was nötig ist! Haben die Kinder Jacken und Hütchen?«
Schon flogen sie hinaus und kamen bald mit Sonntagskittelchen, Krägelchen und Hütchen zurück. Die Mutter setzte auch den besseren Hut auf, schlug ein Tuch um und zog Handschuhe an.
»Gelt, das geht uns heut noch besser, als wir gedacht!« sagte sie froh gerührt zu den Kleinen, die sie fröhlich zu atzen hoffte. Dann ergriff sie den Arm des Mannes, die Kinder voranschickend. Als er aber auf dem Flur die gebrauchten Eß- und Trinkgeräte vom Nachmittage stehen sah, sagte er, einen Augenblick stehenbleibend:
»Da ist jedoch gegessen und getrunken worden, oder woher kommt denn das Geschirr?«
»Ja, es wurde gegessen und getrunken, aber wir haben zugesehen! Komm, ich will dir morgen erzählen, was ich für eine Wirtin bin!«
So gingen sie aus dem Hause; die Mutter schloß die Türe, und lebhaft ging es den Bergweg hinunter, so matt sie sich eben erst gefühlt hatten. Die Frau freilich stützte sich tüchtig auf den Arm des Mannes, von dessen Mühsalen sie nichts ahnte. Indessen steuerte er nach einer Gegend, wo er mit Henne und Hühnchen ungestört zu sein hoffte; als sie aber an einem großen, hell erleuchteten Garten vorüberkamen, in welchem Musik gemacht wurde und viele Leute saßen, gelüstete es die Kinder, ihren Hunger unter Geigen und Flötenklang zu stillen; denn sie standen still und schauten sehnsüchtig durch das Gitter, wo sie übrigens auch überall an gedeckten Tischen essen sahen.
»Sie haben recht!« sagte der Vater zur Frau, »warum sollen sie heute nicht eine Tafelmusik haben? Bleibe hier einen Augenblick mit ihnen stehen, ich will sehen, ob ich nicht einen Winkel für uns finde, wo wir unter uns sind!«
Er ging in das Haus und fand im Erdgeschoß des Gebäudes einen Saal mit offenen Fenstern, in welchem einige Leute saßen; ein kleineres Nebenzimmer jedoch war ganz leer, obgleich ein gedeckter runder Tisch darin stand. Sogleich holte er Frau und Kinder herein und ließ sie den Tisch einnehmen, über welchem ein Gasleuchter hing.
O wie zufrieden blickten die Kinder nun drein, als sie die Hände auf dem Tischtuche übereinander legten, zuweilen mit den Fingern ein wenig trommelnd.
Martin Salander gab seiner Frau, die neben ihm saß, die Hand, dann über den Tisch reichend auch den Kindern, einem nach dem andern. Er sagte nichts dazu und war glücklich, alles andere vergebend. Ein Kellner kam, nach dem Begehr fragend.
»Marie, befiehl du, was du wünschest und für die Kinder gut ist! Ich werde dann mit Erlaubnis hintendrein schon nachbessern, wenn du zu knauserig bist!« sagte Salander.
»Warme Suppe ist jetzt wohl nicht da?« fragte sie den Kellner.
»O ja, an Konzertabenden werden nach Belieben ganze Soupers serviert!« versetzte jener.
»Das ist ja ganz unser Fall,« meinte Salander, »da brauchen wir uns nicht die Köpfe zu zerbrechen, nicht wahr, Marie?«
»Ich bin sehr zufrieden!« antwortete sie, froh, des weiteren enthoben zu sein. Schnell legte der Kellner die Gedecke auf, die übrigen Zubehörden glänzten in blankem Christoffel schon auf dem Tisch. Bald erschien er auch mit der Schüssel, in welcher eine würzige Suppe dampfte.
»Setzen Sie das Ding nur auf den Tisch!« sagte Salander, »und beeilen Sie sich auch mit den übrigen Speisen nicht, wir wollen uns Zeit lassen! Es soll nicht Ihr Schade sein!«
»Sehr wohl!« empfahl sich der Kellner und ließ die Herrschaft vorderhand mit der Suppe allein. Als Salander bemerkte, daß die Gattin so wohlig im Stuhle zurücklehnte und sich eben aufraffen wollte, die Teller zu füllen, hielt er sie zurück und schöpfte an ihrer Stelle die Suppe, welche wie Ambrosia duftete. Und wie sie die Löffel zur Hand nahmen, fiel im Garten draußen das Orchester mit einem gewalttätigen Musikstück ein, daß die Kinder in dem Posaunen- und Paukengewitter die ersten Löffel mit einer seltsamen Mischung von Heißhunger und Herzensjubel zum Munde führten.
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