Auf den anfänglichen Lärm folgte jedoch bald ein Pianissimo, dem das Publikum im Garten lautlos lauschte; die drinnen löffelten achtlos fort, ein »Sch!« zischte draußen, worüber Frau Marie erschrak, die Kinder lachten und Martin Salander das Fenster schloß.

»Eßt fort, kümmert euch nicht darum!« mahnte er. So geschah es, und als eine kleine Stunde vorbei, vergnügten sich die Kinder wohlgesättigt an dem ungefährlichen Nachtisch. Jedes hatte ein Glas Wein bekommen, die Mutter aber deren drei getrunken, und nun dünkte der Mann sich im Paradiese zu sitzen, als die aufblühenden, leicht sich rötenden Antlitze mit frohen Augen ihm entgegenglänzten, wohin er blickte, als wollten sie ihm sagen, was das Glück sei: eine Art Kräutlein Kommnichtum!

Wenigstens sagte er sich in seinen Gedanken: Dies, was ich sehe, ist die Wahrheit, und nicht das, was ich weiß!

Die Kinder wurden immer munterer; Arnold hatte sich dicht an die Seite des Vaters geschmuggelt und sagte plötzlich: »Aber Vater, weißt du nicht, daß ich dich heute schon gesehen habe, bei dem Brunnen, wo die Weidelichbuben mich auslachten, daß ich nur eine Mutter und keine Mama habe!«

Salander hatte über den nachherigen Ereignissen den Auftritt und das Gesicht des Knaben gänzlich vergessen; er nahm es jetzt in die Hände und rief:

»Bei Gott, es ist ja wahr! Wo hab ich nur meine Gedanken! Hätt ich doch gewußt, daß ich meinem Blute so nah war!« Erstaunt schaute Frau Marie auf.

»Bist du denn nachmittags schon hier in der Nähe gewesen und nicht zu uns gekommen?« fragte sie, fast bekümmert. Er fühlte jetzt, daß seine üble Lage doch eine Wirklichkeit war, faßte sich jedoch, weil es sein mußte und er das neue Unglück nicht hier und zu dieser Stunde verkünden konnte. Er gehörte zu denen, welche dergleichen lieber verschweigen möchten wie ein Vergehen, das ihnen selbst und nicht fremder Schlechtigkeit zur Last fällt.

»Freilich,« sagte er, »bin ich schon um zwei Uhr oben gewesen, auf dem Wege zu euch! Im Zeisig traf ich einen alten Bekannten, den Möni Wighart, der schleppte mich mit Gewalt in den ›roten Mann‹, dort fiel uns ein, wir wollten mein Gepäck auf dem Bahnhof holen, damit das abgetan sei; dann mußte ich die Verzollung besorgen, wobei sie mir Umstände machten; dann wechselte ich unterwegs englisches Geld aus, das ich bei mir hatte, auch kamen noch andere herzu, kurz, wie es geht, die Zeit verzettelte sich und es wurde Abend. Aber nimm es nicht für ungut auf, es geschah von selbst, wie der ganze Weltlauf!«

Sie war schon lang zufrieden und im Innern froh, daß der Weltlauf sich so gefügt, der Mann nicht zu ihrer sonderbaren Bewirtung kam und die Fremden zu unwillkommenen Zeugen des Wiedersehens wurden.

Erst gegen eilf Uhr traten sie den Rückweg nach der Kreuzhalde an. Der Mond war inzwischen aufgegangen, und in seinem hellen Scheine zogen sie dahin, die Kinder voran, welche bald zu singen anfingen, zur Erbauung des Vaters mit gutem Ton und Gehör und frischen Stimmen. Die Frau verließ den Arm des Mannes nicht, fragte, erzählte, plauderte und überließ sich ganz dem Genusse einer freundlichen Schicksalswendung.

Aber je näher sie dem Hause kamen, desto schwerer wurde dem Manne wieder das Herz; denn der Augenblick nahte, wo er die arme Frau aus ihrem Himmel reißen mußte.

Nein, heute nicht mehr, sagte er sich, sie soll diese Nacht noch einen guten Schlaf in Glück und Sorglosigkeit tun, den sie so lang verdient hat! Morgen ist ein neuer Tag!

Das Haus lag im Mondschein still vor ihnen; sie schlossen auf, die Kinder sprangen wieder voraus und machten Licht, und die Stube ward so belebt wie lange nicht zu dieser Stunde. Die Mutter sah ihr Regenbogenschälchen im Papierchen am Boden liegen, hob es unbemerkt auf und machte sich am Schränklein zu schaffen, um es im stillen wieder zu verwahren. Es tat ihr im Glücke wohl, an das artige Besitztum und Abenteuer einen kleinen Aberglauben zu heften, daß es auch künftig vielleicht Heil ankündigen möge, solange es da sei.

»Nun macht, daß ihr zu Bett kommt, Kinder! Morgen beizeiten müßt ihr ausfliegen und für den Vater und uns das Frühstück herbeischaffen. Späterhin reis ich selber aus.«

Hiermit trieb sie die aufgeregte Jugend in die Kammer, wo sie mit den Kindern zu schlafen pflegte. Der Vater kam mit, um zu sehen, wo sie hausten, und ihnen die Decke über die Nasen zu ziehen. Es sah nicht aus wie bei Leuten, die soeben nichts mehr zu beißen hatten, sondern alles war in reinlicher, guter Ordnung, noch mehr in dem Zimmer daneben, wo die Frau das Lager des Mannes schon seit Monaten bereithielt.

»Wenn du heute nicht gekommen wärst,« sagte sie scherzend, »so hätte ich morgen mit deinem Bette den Anfang gemacht und es als überflüssig verkauft, das siehst du wohl ein!«

»Vollkommen! Hättest du's nur schon früher getan, anstatt solche Teufelei und Hungersnot anzustellen! Aber ich wollte schon ein paarmal fragen,« fuhr er fort, aus dem offenen Fenster auf das mondhelle Umgelände hinausdeutend: »Wo sind denn nur die vielen schönen Bäume hingeraten, die sonst vor und neben dem Hause standen? Hat sie der Eigentümer abschlagen lassen und verkauft, der Tor!? Das war ja ein Kapital für die Wirtschaft!«

»Man hat ihm das Land weggenommen oder eigentlich ihn gezwungen, Bauplätze daraus zu machen, da einige andere Landbesitzer den Bau einer unnötigen Straße durchgesetzt haben. Nun ist sie da, jedes schattige Grün verschwunden und der Boden in eine Sand- und Kiesfläche verwandelt; aber kein Mensch kommt, die Baustellen zu kaufen. Und seit die guten Bäume dahin sind, ist auch mein Erwerb dahin!«

»Das sind ja wahre Lumpen, die sich selbst das Klima verhunzen. Nun wollen wir aber auch zur Ruhe. – Du, Marie!«

»Was, Martin?«

»Eines, will ich wetten, hast du gewiß vergessen!«

»Was denn?«

»Meinen alten Stiefelknecht!«

»Hier ist er!«

Sie zog ihn unter dem Fußende des Bettes hervor.

 

IV

 

Salander hatte nach allen Bewegungen und Erregungen des vergangenen Tages endlich dem Schlafe nicht widerstanden. Doch mit dem ersten Frühscheine, der am Himmel heraufkam, weckte ihn die schwere Sorge, die keineswegs eingeschlafen war. Er sah seine Gattin, die im tiefsten Frieden lag und schlief, jeder Zug ihres Gesichtes in seiner Ruhe und Zufriedenheit der Herold einer wohlgeborgenen Seele. Und diesen Frieden sollte er mit einem Worte von Grund aus zerstören; die Stunde war unwiderruflich da.

Das neue Unglück schien ihm erst jetzt wirklich geboren, und er bereute bitter, daß er gestern nicht stehenden Fußes wieder geflohen oder mit der bösen Nachricht gleich ins Haus gefallen war.

Als er, von dem alten guten Bekannten geführt, das Haus Schadenmüller & Comp. gefunden, hatte er bemerkt, daß an diesem Hause wirklich Arnold von Winkelried mit den Speeren im Arm auf Goldgrund gemalt, prangte, nebst einer Inschrift: »Sorget für mein Weib und meine Kinder!« Das Haus gehörte dem Herrn Louis Wohlwend, der auch das Bild malen ließ, aber nicht bezahlte, wie sich später zeigte.

Salander hatte seinen Begleiter mit Dank verabschiedet, weil er doch lieber allein vor seinen alten und mutmaßlich neuen Schuldner treten wollte. Er stieg die Treppe hinan und stieß gleich im ersten Stockwerk abermals auf ein Schild mit »Schadenmüller & Comp.«, dabei aber auch eine Visitenkarte mit »Louis Wohlwend«. Er zog die Klingel an, es schlürfte jemand in schlechten Pantoffeln herbei, und als die Türe aufging, stand ein schäbiger, unreif aussehender junger Mensch vor ihm, einen Gummipinsel in der Hand, und fragte, zu wem er wolle?

»Ist der Herr des Geschäftes hier?« fragte Salander entgegen.

»Das Geschäft ist zur Zeit geschlossen, Herr Wohlwend ist da, wie ich glaube; wen soll ich anmelden, wenn er zu sprechen ist?« erwiderte mißtrauisch der junge Mann.

»Führt mich nur gleich hinein, wo er ist, er wird mich schon kennen!« sagte Salander etwas barsch, indem er den Menschen drehte und vor sich herschob.

Der ging ihm in eine leere Kontorstube voran, bat ihn, da zu warten und begab sich in das Kabinett des Herrn Wohlwend. Salander sah sich inzwischen etwas um und gewahrte, daß man hier beschäftigt war, Abzüge eines unordentlich autographierten Zirkulars zu falten, in Umschläge zu stecken und mit Gummi zu verkleben. Es dauerte einige Minuten, bis der junge Mensch zurückkam und ihn ersuchte, in das Kabinett zu treten. Salander klopfte zweimal, bis jemand »Herein« rief. Als er eintrat, sah er an einem breiten Schreibtisch von Mahagoni, in einen großblumigen Schlafrock gekleidet, einen Mann sitzen, der ihm den Rücken zuwandte und eifrig zu schreiben schien, ohne sich aufzurichten.

»Herr Wohlwend?« sagte Salander, um sich bemerklich zu machen.

»Stehe gleich zu Diensten«, sagte jener, immer fortschreibend, schaute dann aber einen Augenblick auf, kehrte sich wie der Blitz wieder ab, drehte sich abermals um und warf dem Fremden einen stechenden Blick zu, wie man es einem Todfeinde gegenüber tut und auch dann nur, wenn man selbst bös ist. Doch ebenso schnell nahm er sich zusammen, erhob sich, ging einen Schritt vorwärts und stellte sich, als ob er erst jetzt nach und nach seinen Besucher erkennen würde.

»Irre ich nicht? Ist das nicht der Martin Salander?« Martin mußte sich den Mann im Schlafrock auch erst ein wenig betrachten, um ihn zu erkennen, obschon in dessen Aussehen, außer einer ganz leisen Verwitterung, fast keine Änderung eingetreten war, als daß er in dem früher glatten Gesicht einen Schnurrbart hatte stehen lassen, der sich nicht am Platze fühlte und mit seinen Härchen sich nach allen Seiten sperrte und um sich stach. Durch diesen einzelnen Gegenstand aber erschien das Gesicht urplötzlich ungeheuer leer, unwirtlich und trostlos für den, welchem der Schnurrbart neu war.

»Jawohl bin ich's!« sagte Salander.

»Ei der Tausend, so sei willkommen«, sagte der andere, die Hand hinhaltend und den unwillkommenen Ankömmling prüfend anblinzelnd, eher wie ein kritischer Gläubiger als wie ein böser Schuldner; »es ist lange her, seit wir uns zuletzt gesehen haben! Und was führt dich für ein guter Stern her?«

»Dies!« erklärte Martin kurz, von der tollen Manier beleidigt. Er hielt ihm die aus der Brieftasche gezogene Anweisung hin.

Wohlwend empfing sie mit zwei Fingern, wie einen Krebs, zog die Augenbrauen in die Höhe und las den Zettel.

»Ah!« sagte er, »die Atlantische Uferbank in Rio.