Da öffnete sich die Tür, und Marianne trat ein.
Von dem Tage an erschien Paul verändert; sehr zu seinem Vorteile, meinten die Gräfin und ihre Tochter. War es die Frucht männlich bestandener Kämpfe mit sich selbst, war der Frieden wirklich in seine Seele gekommen? Die Ungleichheit seiner Laune störte Theklas heitere Sorglosigkeit niemals wieder. Er vermied alles, was sie unangenehm berühren konnte, er forderte in ernsthaften Dingen kein Urteil mehr von ihr, fragte nicht mehr in hofmeisterndem Tone, ob sie dieses oder jenes Buch gelesen habe. Die Helden der Geschichte, die großen Dichter und Künstler, deren Geister er sonst mit einem Enthusiasmus zu zitieren pflegte, der zur Teilnahme aufforderte, ließ er jetzt ruhen. Er vermied alles Kritteln und Mäkeln, er gab sich ganz dem Zauber hin, den Theklas von Hoheit umstrahltes Wesen, den der Wohllaut ihrer Stimme auf ihn ausübten. Er begann Geschmack zu finden an dem heiteren, unbekümmerten Leben im Hause seiner zukünftigen Schwiegermutter und schwelgte in dem anmutigen Behagen, das vollendete Wohlerzogenheit um sich her zu verbreiten weiß.
Für die Entschiedenheit, womit Thekla traurige und unangenehme Eindrücke von sich wies, für ihre Scheu vor geistiger Anstrengung fand er tausend Entschuldigungen: Sie ist jung und nimmt das Leben leicht, sie ist glücklich und will es bleiben, sie fühlt unbewußt wie ein Kind, das sich gegen das Aufnehmen schwieriger Erkenntnisse sträubt, den tiefen Sinn der großen Wahrheit: nachdenken bricht das Herz!
Eines Tages fand er Thekla, ihn im großen Salon erwartend: »Ich bin Ihnen entgegengekommen«, sagte sie leise und lachend, »um Sie abzuhalten, bei Mama einzutreten. Mama hat Besuch, die alte Baronin Limberg, Sie wissen, die Wohltäterin. Ihr eigenes Hab und Gut hat sie bereits verschenkt und geht jetzt auf Plünderung ihrer Bekannten aus. Heute sammelt sie für die Armen im Erzgebirge, macht Ihnen Beschreibungen von dem Elende dort – man kann's nicht anhören. Gewiß, sie übertreibt.«
»Schwer möglich in dem Falle«, sagte Paul; er wollte noch etwas hinzusetzen, aber sie fiel ihm ins Wort: »Reden wir nicht davon, ich bitte Sie! Was nützt es denn? Man kann nicht alle armen Leute reich machen. Wir geben, soviel in unseren Kräften steht, und beruhigen uns damit. Sich grämen über das Elend heißt ja nur, es vermehren.«
Seltsam berührt wandte er sich ab ... Es war wohl eigen! Dasselbe hat er einst gesagt – ihm schien, mit denselben Worten – zu seiner jungen Frau, die ihn an seinem Arbeitstische gestört mit einer Schilderung hungernder und frierender Not, der sie durchaus abhelfen wollte. Die junge Frau hatte ihm schweigend zugehört, ihm sanft die Hand auf die Schulter gelegt, ihm flehend, begütigend in die Augen gesehen und war endlich, rauh abgewiesen, hinweggegangen, betrübt und still... Arme Marie!...
Thekla ahnte nicht, daß in diesem Augenblicke, während er beistimmend sagte: »Ja, jawohl«, eine zarte Gestalt zwischen ihm und ihr dahinglitt, leise wie ein Traum, und ihr schönes Bild verdunkelte. Aber es war ja nur die Gestalt einer Toten, die er niemals geliebt, und in der nächsten Sekunde schon verweht, zerflossen vor der Lebendigen, die er liebte!
Diese begann sich ihrer Macht über ihn wohl bewußt zu werden und übte sie aus mit einer Koketterie, die immer in den Grenzen des strengsten Schönheits-und Schicklichkeitsgefühles blieb und deshalb um so berückender war. Jetzt wagte Thekla manchmal schon einen Widerspruch, erhob aber dabei stets einen Blick voll so liebenswürdiger Demut zu ihrem Bewerber, daß dieser wünschte, sie möge ihm öfter widersprechen, damit ihm ein solcher Blick öfter zuteil würde.
Die Zeit verging, wie sie dem Liebenden zu vergehen pflegt, entsetzlich langsam, furchtbar schnell ... Es kamen Tage, deren Ende Paul nicht erleben zu können meinte, andere, die wie Minuten verflogen – und als die Luft eines Morgens lau und lind durch das geöffnete Fenster drang und er, einen Blick auf die Kastanienbäume vor dem Hause werfend, ihre Knospen geschwellt, ihre Zweige mit jungem Grün bedeckt sah, da überraschte es ihn, daß der Winter vorüber und der Frühling gekommen war. Der Frühling seines wichtigsten Lebensjahres, welches auch das schönste werden sollte, das erste eines reichen Glückes, in dessen Sonnenschein sich alle spiegeln und erwärmen werden, die ihn lieben. Er gedachte seiner Eltern und des Kindes, das zwischen dem greisen Ehepaare aufwuchs, liebevoller, als er je getan. Innig wie nie fühlte er die Sorge für ihr Wohl in seinem Herzen Raum fassen. Sie sollen alle neu aufatmen, Frohsinn und Heiterkeit sollen einziehen in ihr stilles Haus, wenn er ihnen Thekla bringt, die Frau seiner Wahl, die ihn lieben lehrte, nicht sie allein lieben, auch die Seinen, auch die ganze Welt – und jenen so eigentlich erst den Sohn, seinem Kind den Vater, der Erde einen Menschen geschenkt.
Er wird an Theklas Seite ein anderer sein, als er in seiner ersten Ehe gewesen ist. Damals hatte er eine Pein kennengelernt, ärger fast als unglückliche Liebe: die Pein, eine Neigung einzuflößen, die man nicht erwidert und doch erwidern sollte. Es war seine Pflicht, er hatte es gelobt... Schlimm genug, daß er sich dazu verleiten ließ! – Als Verwandte war Marie ihm wert gewesen, aber als seine Frau, da fand er gar vieles an ihr auszusetzen. Zuerst, daß er es fühlte: Sie leidet durch mich! Immer hatte man ihm gesagt, geborgen seien alle, die ihm angehörten, sein Dasein schon sei Glück und seine Nähe Segen. – Warum empfand sie es nicht? Was wollte sie denn? Kurz angebunden war seine Art; schonungslos gegen sich selbst, verstand er sich nicht auf zarte Rücksichten gegen eine empfindsame Frau. Verweichlicht schalt er sie, anspruchsvoll und wollte die leise Stimme in seinem Innern nicht hören, die ihm zuflüsterte, daß er ihr Unrecht tue ... Und wenn es wäre! er kann nicht anders: sie ist ihm ein Rätsel – und er, der alles begreift, was die Weisesten denken und die Edelsten empfinden ... sie begreift er nicht, er steht ratlos vor diesem Kinde.
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