Und war ich's je«, setzte er nach einer Pause hinzu – »so sagen wir denn: ich bin's nicht mehr.«

Eine wunderbar rasche Wandlung ging bei diesen Worten in dem alten Manne vor, wie durch einen Zauber schien der Sturm in seiner Seele beschworen. Weich, mit wehmütigem Vorwurf hob er an: »Wie lange warst du nicht mehr bei uns! – Seit deiner Rückkehr aus dem Feldzuge ...« Er schlug dreimal mit seiner kleinen Faust auf den Tisch: »Seit drei Jahren! drei Jahre sind's ...«

Der letzte Aufenthalt in Sonnberg stand Paul in bitterer Erinnerung. Die Trauer seiner Eltern, die ihm maßlos geschienen, weil er sie nicht teilte, die Zerfahrenheit im Hause, das schwächliche Kind, wie abstoßend hatte das alles auf ihn gewirkt! Nur hineingeblickt hatte er in dieses freudlose Heimwesen und war hinweggeeilt. – Er konnte ja wiederkommen, später, in besserer Zeit. Aber das Leben zog ihn in seine Wirbel, die Lust an öffentlicher Tätigkeit, der Ehrgeiz, in großem Wirkungskreise Großes zu leisten, erfaßte ihn. Manchmal mahnte es ihn wohl: Du solltest doch nachsehen, wie es steht mit den alten Leuten... Aber sie rufen ihn nicht, und brauchen sie ihn denn? wozu auch? Er ist kein Weib, das sich über Unabänderliches grämt, er kann ihnen nicht weinen helfen. Und endlich – er wird sie schon besuchen, aufgeschoben ist nicht aufgehoben. So war eine lange Zeit vergangen seit seiner flüchtigen, peinlichen letzten Einkehr im Vaterhause. Ihrer besann er sich jetzt nur zu deutlich, indem er Kamnitzkys Worte wiederholte: »Drei Jahre, ja – jawohl. Damals war es bei uns fürchterlich!«

»Damals war's gut, noch gut«, rief der Freiherr. »Es war kurz nach dem Unglück ... ich spreche von dem Tode deiner Frau. Unmittelbar nachdem man den Streich empfing, den das Schicksal führte, weiß man nicht, wie tief er getroffen, wie viele Lebenswurzeln er uns durchschnitten hat... das zeigt sich erst später.«

»Du meinst«, entgegnete Paul, »daß der Schmerz um einen erlittenen Verlust zunimmt, je mehr Zeit darüber hingeflossen ist? Ich, lieber Alter, halte dafür, daß die Zeit alle Wunden heilt.«

»Im allgemeinen – könntest du wenigstens hinzusetzen«, fiel ihm Kamnitzky ein. »Für einen Mann wie du gibt es freilich nur das Allgemeine... ein Mann wie du kümmert sich nicht um das einzelne Wesen, den besonderen Fall. Wenn man der Menschheit angehört, dem Universum ...« Er klimperte hastig mit einem Schlüsselbunde in seiner Tasche, seine Stimme, die sich während der letzten Sätze gesenkt hatte, erhob sich wieder: »Wann ist es kälter, he? eine Stunde oder mehrere Stunden nach Sonnenuntergang?... Nun, Lieber, für deine alten Leute ist die Sonne untergegangen hinter dem Hügel in der Friedhofecke, wo die Zitterpappeln ... Ja so – du weißt nicht – warst nicht einmal dort... Nicht einmal dort!« Er richtete sich kerzengerade auf, warf die Schultern zurück wie ein Soldat in strammer Haltung und fuhr fort, mit affektierter Nachlässigkeit den Blick, über Pauls Kopf hinweg, nach dem Fenster gerichtet: »Und es ist doch freundlich dort, durchaus freundlich: ein Gitter umschließt die Stelle, an den zierlichen Stäben ranken sich Zwergrosen empor, ein Band aus Efeu bildet, flach und breit, einen – weißt du, einen ...« Seine Hand zeichnete schwungvolle Linien in die Luft: »Einen Kranz, so – verschlungen... und die Platte aus geschliffenem Granit spiegelt wie blankes Eis im Sonnenschein. Eingemeißelt in den Stein steht ihr Name in großen Buchstaben, sonst nichts als nur das Datum, Geburts- und Todestag natürlich... darunter zwei Verse von ihrer Lieblingsdichterin, sonst gar nichts.«

Peinlich! peinlich! dachte Paul, werd ich den Schwätzer nicht los? – »Was für Verse?« fragte er obenhin, nur um etwas zu sagen.

»Ja, was für Verse? Als ob ich mir dergleichen merkte! Aber aufgeschrieben hab ich sie, wenn mir recht ist...«

Er suchte lange in seiner mit Rechnungen, Adressen und Zeitungsabschnitten bis zum Bersten gefüllten Brieftasche und zog endlich einen Papierstreifen hervor, den er Paul reichte.

Dieser las halblaut und langsam:

 

»Sehr jung war ich und sehr an Liebe reich,

Begeisterung der Hauch, von dem ich lebte.«

 

Kamnitzky bewegte die Lippen, als spräche er im stillen jede Silbe nach. »Ja, ja«, sagte er, »ganz richtig, das ist sie ... Ach Gott, ist sie – gewesen! Na... Gott hab sie selig! Deine Eltern ... sie haben freilich das Kind, ein Trost, eine Sorge ...«

Paul schwieg. Er hatte den Ellbogen auf das Knie gestützt und die Stirn in seine Hand; die gesenkten Augen ruhten unverwandt auf den geschriebenen Zeilen, die er festhielt in der herabgesunkenen Rechten. Er regte sich nicht – was ging in ihm vor? Der Alte konnte sein Gesicht nicht sehen, doch verriet seine Haltung, sein beklommener Atem eine tiefe Erschütterung.