Sie spielte rein, nett, mit bewunderungswürdiger Geläufigkeit. Goldene Lichter schimmerten auf den reichen Flechten ihrer blonden, natürlich gewellten Haare; ihr Gesicht nahm einen gehaltenen, aufmerksamen Ausdruck an, jenen Ausdruck, den Paul nicht sehen konnte in ihren Zügen, ohne mit innigstem Entzücken zu denken: Du bist mehr, als du selber weißt, mehr als du scheinst; mehr als die Flachheit des Lebens, das du führest, ahnen läßt.

Er stand ihr gegenüber, legte die verschränkten Arme auf das Klavier, beugte sich vor und versank in die Wonne ihres Anblicks.

O Schönheit! Herzbezwingerin! Herrin, Königin! – Du bist der Frieden, wer kann dir grollen? Du bist der Sieg – wer kann dir widerstehen? Nur kurzsichtige Torheit frägt, ob in der schönen Hülle eine schöne Seele wohne. Die Hülle ist nur darum schön, weil die Seele sie schön belebt. Eins sind Form und Wesen; sie sind es im Kunstwerk, das hervorging aus Menschenhand, und wären es nicht im höchsten Kunstwerke der Schöpfung?...

Unverwandt ruhten seine Augen auf ihrem edlen Angesichte; sie erhob die ihren zu ihm und sah ihn forschend und etwas besorgt an.

»Sie hören nicht zu – mißfällt Ihnen, was ich spiele... oder hätte ich überhaupt nicht spielen sollen? Ich weiß, Sie lieben Musik nicht immer.«

Sie schloß ihr Notenheft und schob es unter das Pult, das sie langsam niedergleiten ließ. Die kleine Scheidewand, die sie getrennt hatte, senkte sich.

»Thekla«, sprach Sonnberg, »mir gefällt alles, ich liebe alles, was Sie tun. Wissen Sie das noch nicht?«

Heller Freudenglanz breitete sich bei diesen Worten über ihr Gesicht, und sie entgegnete schalkhaft, übermütig: »Gefällt Ihnen auch alles, was ich sage?«

Paul gab keine Antwort; er blickte schweigend vor sich hin und sagte endlich: »Ich nehme heute für einige Tage Abschied von Ihnen, Gräfin Thekla.«

»Sie wollen fort?« fragte sie äußerst erstaunt – »und wohin?«

»Auf das Land, zu meinen Eltern.«

»Werden Sie erwartet? Haben Sie zu kommen versprochen?«

»Nein. Ich will sie überraschen.«

»Ah – Sie stehen mit Ihren Eltern auf dem Fuße der Überraschungen ... So ist das!«

Sie schlug einige Töne auf dem Klavier an, leise, ohne Zusammenhang. »So ist das –« wiederholte sie gedehnt. »Ihre Eltern können wohl nicht leben ohne Sie?«

»Daß sie es können, beweisen sie, denn – sie leben.«

»Dann also!« – Sie sah ihn plötzlich an; eine Wolke voll drohenden Ernstes war auf seiner Stirn aufgestiegen; ein Zug bitteren Schmerzes spielte um seine fest zusammengepreßten Lippen, ein Schmerz, dem Zorne gar nah verwandt und gewiß bereit, sich als solcher zu äußern ... Thekla ahnte, wußte es, und dennoch! Zum ersten Male war es nicht Furcht, was sich in ihr regte, als sie in sein verfinstertes Gesicht blickte, sondern die halb unbewußt erwachende echt weibliche Lust an einem Kampfe, in dem alle Mittel gelten, an dem Kampfe mit dem Stärkeren – dem Manne.

Ei, dachte sie – du willst mich strafen, willst mir zeigen, daß du unabhängig bist und mich verlassen kannst, wann es dir gefällt?...

Sie verschränkte ihre Arme über dem Pulte, beugte sich vor und drückte ihre Wange auf ihre Hand, während ihr Auge sich zu ihm erhob, der sie liebte.

»Bleiben Sie bei uns«, sprach sie, hielt inne, schien zu überlegen und fügte endlich leise wie ein Hauch, aber mit holder Entschlossenheit hinzu: »Bei mir!«

Sein Blick glitt über ihr demütig gesenktes Haupt, über den jungen schlanken Nacken, die königlichen Schultern, über die ganze vor ihn hingegossene Gestalt, und alle süßen Schauer bewunderungstrunkener Liebe durchzitterten ihn. Sein Herz pochte wie ein Hammer in seiner Brust, er richtete sich auf... Ein ungeübter Trinker, dem der Wein zu Kopfe steigt, der mit Entsetzen seine Herrschaft über sich selbst schwinden fühlt, ruft sich nicht eindringlicher zu: Nimm dich zusammen, wägt seine Worte nicht sorgfältiger, als Paul es tat und als er sprach: »Ich bin heute hart gemahnt worden an eine versäumte Pflicht.«

Hart gemahnt? dachte Thekla – das wagt jemand, das lässest du dir gefallen, und ich lebe in Angst vor dir? – »Sind denn Ihre Eltern so anspruchsvoll?« fragte sie rasch. Auch sie hatte sich aufgerichtet und sah ihm gerade ins Gesicht.

»Das sind sie wirklich nicht!« rief er, »sie sind nur sehr bedauernswerte, alte, einsame Leute. – Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, daß Sie die Tochter dieser alten Leute werden sollen, liebe – liebe Thekla?« fragte er und reichte ihr über das Pult hinweg die Hand, in welche sie ohne Besinnen die ihre legte.

»Gewiß«, sprach sie, »ganz gewiß.«

Paul begann das Leben zu schildern, das seine Eltern auf dem Lande führten; er schilderte sie selbst mit Wärme und Lebhaftigkeit; er sprach alles aus, was er den Tag hindurch gedacht, und solange er lebte, hatte er wohl nie so innige, herzliche und milde Gedanken gehabt.

»Ich will meinen Eltern von Ihnen sprechen«, schloß er bewegt. »Sie ist es, die mich zu euch schickt, will ich sagen, die mich drängte, euch endlich in eurer Verlassenheit aufzusuchen. Sie werden dafür geliebt und gesegnet werden, Thekla, und wie wird mich das beglücken!«

Während er sprach, hatte ihre Hand wie tot in der seinen gelegen. Als er nun schwieg, entzog sie ihm dieselbe, spielte mit ihrem Taschentuche, legte es ganz klein zusammen, glättete es auf ihrem Knie, und dieweil er dachte: Oh, nur jetzt den Anklang einer weichen Empfindung, nur einen einzigen leisen Herzenslaut! sagte sie: »Ihre Eltern haben sich so lange ohne Sie beholfen, sie werden es noch länger tun ... Schreiben Sie ihnen, entschuldigen Sie sich – versprechen Sie ihnen zu kommen.«

Paul atmete tief auf: »Sie haben mich mißverstanden. Ich brauche mich nicht zu entschuldigen, brauche nichts zu versprechen; meine Eltern denken nicht daran, meine Rückkehr zu fordern. Ich selbst wünsche sie wiederzusehen – ich selbst sehne mich ...« Er brach ab und fragte plötzlich: »Begreifen Sie das nicht?«

»Nein! Ich begreife nichts, als daß Sie jetzt nicht abreisen dürfen... Abreisen – welch ein Einfall! Was treibt Sie denn fort?«

»Ich meinte es Ihnen auseinandergesetzt zu haben ... Mein Gott, wozu rede ich!«

»Und – ich?« fragte sie mit einem langen vorwurfsvollen Blick ...

Thekla legte die Verwirrung, die sich in Sonnbergs Zügen malte, zu ihren Gunsten aus. Gibt er schon nach, oder ist es ihm gar nicht ernst gewesen mit seinem Reiseplan? Er will vielleicht nur gebeten werden, ihn aufzugeben, und wäre sehr enttäuscht, wenn Thekla keinen Widerstand leistete. Und zum Widerstand ist sie ja entschlossen!... Es ist freilich ein wenig mühsam, das alles, und der gute Graf etwas schwerlebig. Aber seine Seltsamkeiten werden sich geben, »wenn ihr nur erst verheiratet seid«, meint Mama. Nun denn! Gräfin Sonnberg wird man eben nicht so leicht, wie man etwa – Gräfin Eberstein würde.

Thekla begann eine lebhafte Beredsamkeit zu entfalten. Sie führte ihr ganzes weibliches Rüstzeug von liebenswürdigem Trotz, von anmutiger Würde und wehmütigem Scherze in das Treffen; sie war geistreich und reizend und drohte schließlich auf das unwiderstehlichste mit ihrem Zorne.