Das kann man. Man muß nur beizeiten zum Rechten sehen.«

Unterdessen hatte Paul, der seinen Wagen fortgeschickt, zu Fuß den Heimweg angetreten. Ihn lockte der Gang durch die schneebedeckten Straßen in der stillen Winternacht. Erquickt von der kalten Luft, die ihn anwehte, sog er sie tiefatmend ein und begann gewaltig auszuschreiten. Wie groß und weit war ihm das Herz! Als hätte ein Bann sich gelöst, der auf ihm ruhte, so fühlte er sich; als wären ungeahnte Fähigkeiten in ihm erwacht.

– Das ist das Glück! das ist die Liebe! jauchzte es in seiner Brust. Was hatte er bisher für den Inhalt des Lebens gehalten? Einen Ehrgeiz, den Tausende besaßen, das Jagen nach Zielen, die andere so gut wie er erreichen konnten. Von dem alles verklärenden Licht, von der Krone des männlichen Daseins, von der Liebe zu einem Weibe, davon hatte er nichts gewußt. Wohl war er angebetet worden von Kindheit an, hatte schwärmerische Neigungen eingeflößt, erwidert aber hatte er noch keine der liebevollen Empfindungen, die ihm entgegengetragen wurden. Und jetzt – wie aus dürrem Waldesboden die Lohe bricht, wie Feuerfluten emporsteigen aus dem felsenstarrenden Berge, so flammte jetzt in seiner Seele die Leidenschaft plötzlich auf. Sie war erwacht, ein göttliches Wunder; das schöne Geschöpf, das er eben in seinen Armen gehalten, hatte sie geweckt, zu niemals geahnter Wonne ...

Eine Regung von Mitleid erwachte in ihm – wie ein Schatten zog die Erinnerung an seine verstorbene Frau durch sein Gemüt. Aber selbst dieser leichte Schatten, den eine trübe Vergangenheit über die leicht strömende Gegenwart gleiten ließ, verflog. Was ist eine wehmütige Erinnerung im Augenblick der seligsten Erfüllung?... Vorbei! vorbei! Friede mit den Toten und Glück und Macht mit den Lebendigen!

 

Am folgenden Tage um zwei Uhr ließen Eberstein und Sonnberg sich bei der Gräfin anmelden. Klemens trug eine Zeitlang die Kosten der Unterhaltung, gestand aber plötzlich, daß er heute nur gekommen sei, um zu gehen, da eine Verabredung mit seinem Geschäftsmanne ihn an das andere Ende der Stadt rufe, und verabschiedete sich mit einem freudestrahlenden Blick auf Marianne und einem Blick voll väterlichen Wohlwollens auf Paul.

Von ihrem Fenster aus, das in den hellen geräumigen Hof hinabging, hatte Thekla die beiden Herren kommen und den Fürsten sich nun entfernen gesehen. Sonnberg war allein bei ihrer Mutter. Jetzt, ganz gewiß jetzt stellt er seinen Antrag. Er sagt, daß er von Thekla dazu berechtigt sei. Eine Pause! Eine halbe Minute Pause: der Anstand will's, und so gehört es sich. – Das Mädchen sah nach der Uhr auf dem kleinen Schreibtisch. Die halbe Minute war vorbei, und Mama spricht vielleicht in diesem Augenblicke: »Ich vertraue Ihnen die Zukunft meiner einzigen Tochter an ...« Die gute Mama! Theklas rosige Lippen, die sich soeben mit einem prächtigen Ausdruck mutwilliger Überlegenheit aufgeworfen hatten, verzogen sich ein klein wenig wie die eines verwöhnten Kindes, dem man ins Gewissen redet und das mit seiner Rührung kämpft. Ihre Pulse begannen rascher zu schlagen, eine nie gefühlte Bangigkeit beengte ihre Brust. Sie erhob sich, trat an das Fenster und blickte hinab in den Hof.

Da steht Sonnbergs Equipage. Ein kleines dunkles Kupee, leicht und solid gebaut, vor Neuheit funkelnd. Der Kutscher sitzt steif auf dem Bocke, hält mit der rechten Hand den Stiel der Peitsche auf den Schenkel gestützt und in der linken die Zügel. Man sieht's ihm an, daß er lieber sterben als die Augen von seinen Pferden wenden würde. Ei, sie sind dieser Aufmerksamkeit wohl wert, die zierlichen Rappen mit ihren feinen Köpfen, ihren schlanken Hälsen, mit den geschmeidigen stählernen Fesseln. Ihr seidenes Haar ist schwarz wie die Nacht, und wie Mondlicht schimmert sein Glanz. Sie stampfen mit spielender Grazie den Boden und blasen übermütig die Nüstern auf, als fühlten sie, daß ein Kennerauge auf ihnen ruhte... Thekla hatte ihre Mutter oft ungeduldig gemacht durch die Behauptung: Um zu wissen, was an einem Menschen sei, brauche sie nur – seine Equipage zu sehen. An das erschrockene: »Ich bitte dich!« das Marianne bei dieser Gelegenheit auszustoßen pflegte, dachte Thekla jetzt und hielt in Gedanken eine kleine Rede an ihre Mutter: Sieh dorthin und wage es, mir unrecht zu geben.