Wie? nun, so tun Sie es! lassen Sie sich lieber nicht stören, ich bin wieder ganz Ohr, und ich bin ganz einig mit Ihnen!«

»Ja, dann brauche ich wohl nichts mehr zu sagen!«

»Aber warum denn nicht?«

»Nun, ich meine, wenn wir einig sind!«

»Ja, wenn wir einig sind!«

Keines von den beiden meinte etwas mit diesen letzten Worten, aber sie sprachen sie mit einer so bedeutungsvollen Betonung aus, als lägen die feinsten Beziehungen darin, und sie sahen einander an mit einem vielsagenden Lächeln auf den Lippen, dem flüchtigen Abglanz des Einverständnisses, das zwischen ihnen aufgeblitzt war, während sie doch beide darüber nachgrübelten, was der andere wohl gemeint haben könnte, und sich ärgerten, daß sie so schwerfällig waren.

Sie begaben sich langsam zu den anderen zurück, und Frau Boye nahm wieder Platz auf dem niedrigen Stuhl.

Erik und Frithjof hatten sich ausgeredet und freuten sich des Zuwachses in der Unterhaltung. Deswegen näherte sich Frithjof sogleich der jungen Frau und war sehr liebenswürdig. Erik hielt gleichsam mit der Bescheidenheit des Wirtes ein wenig zurück.

»Wenn ich neugierig wäre,« begann Frithjof, »würde ich fragen, was für ein Buch es gewesen ist, das vorhin, als wir kamen, den Streit zwischen der gnädigen Frau und Erik veranlaßte.«

»Fragen Sie?« fragte Frau Boye.

»Ich frage.«

»Ergo?«

»Ergo«, erwiderte Frithjof mit einer demütig einräumenden Verneigung.

Frau Boye hielt das Buch in die Höhe und sagte in feierlich verkündendem Tone: »Helge. – Öhlenschlägers Helge.« – »Und weiter, was für ein Gesang war es?« – »Es war: Die Meerjungfrau besucht König Helge.« – »Und weiter, was für ein Vers war es?« – »Es war der Vers, wo sich Tangkjär an Helges Seite gelagert hat, und er seine Neugier nicht länger bezwingen kann, sondern sich umwendet.

 

Und während die Blicke so jünglingswild

Hinüber ihm streifen und gleiten,

Da ruht ihm das lieblichste Frauenbild

An seiner grünenden Seiten.

 

Kein ärmlicher Rock mehr umwölkt das Licht

Der Schönheit des blühenden Weibes:

Durch den enganliegenden Schleier bricht

Der Glanz des üppigen Leibes.«

 

»Und das ist alles, was wir von der Schönheit der Meerjungfrau zu sehen bekommen, und das war es, womit ich unzufrieden war. Ich verlange an der Stelle eine glühende Schilderung, ich will so etwas blendend Schönes sehen, daß mir der Atem dabei ausbleibt. Ich will einen Einblick tun in die eigenartige Schönheit so eines Meerjungfrauenleibes – und nun bitte ich Sie, was soll ich mit zwei weißen Armen anfangen und herrlichen Gliedern, über die ein Stück Flor gezogen ist? Großer Gott! Nein, sie muß nackt sein wie eine Welle, und die wilde Schönheit des Meeres muß ihren Ausdruck in ihr finden. Über ihrer Haut muß der Phosphorschimmer des sommerlichen Meeres liegen, und in ihrem Haar etwas von dem dunkeln, wirren Schrecken des Tangwaldes.«

»Nicht wahr? Ja, die unzähligen Farben des Wassers müssen in ihren Augen in wechselvollem Schimmer kommen und gehen; der wogende Wellenschlag muß den bleichen Busen, muß alle ihre Formen durchrieseln, in dem Umschlingen ihrer Arme muß die verzehrende Weichheit des Schaumes liegen, und das Saugen des Meeresstrudels in ihrem Kuß.«

Sie hatte sich ganz warm geredet und stand jetzt da, völlig hingerissen von ihrer eigenen Schilderung, ihre jungen Zuhörer mit großen, fragenden Kinderaugen anschauend.

Die aber sagten nichts. Niels war dunkelrot geworden, und Erik schien im höchsten Grade verlegen. Frithjof war ganz benommen und starrte sie mit der offenbarsten Bewunderung an, und doch war grade er der von den dreien, der am wenigsten bemerkte, wie bezaubernd schön sie war, während sie so hinter ihren eigenen Worten vor ihnen stand.

Es waren noch nicht viele Wochen verstrichen, als schon Niels und Frithjof ebenso häufige Gäste in Frau Boyes Hause waren wie Erik Refstrup. Außer Frau Boyes blasser Nichte trafen sie hier mit einer Menge junger Leute zusammen, mit angehenden Dichtern, Malern, Schauspielern und Architekten, kurz mit Künstlern, deren Hauptvorzug mehr in ihrer Jugend als in hervorragendem Talent zu liegen schien, die alle aber voller Hoffnung, mutig und kampfbereit waren und äußerst leicht in Begeisterung gerieten. Es waren unter ihnen wohl einzelne jener stillen Träumer, die wehmütig nach den entschwundenen Idealen einer entschwundenen Zeit seufzen, aber die Mehrzahl war doch voll von dem, was damals das Neue war, berauscht von den Theorien des Neuen, verwirrt von der Kraft des Neuen und geblendet von seine Morgenröte. Modern waren sie, verbittert modern, modern bis zur Übertreibung, und vielleicht gerade deswegen, weil sie in ihrem Innersten eine Sehnsucht empfanden, die sich nicht betäuben ließ, eine Sehnsucht, die das Neue nicht stillen konnte, so weltengroß es auch sonst war, alles umfassend, alles beherrschend, alles erleuchtend.

Eins aber war gewiß: in den jungen Seelen herrschte ein stürmischer Jubel, ein Glaube an die Gestirne großer Geister, eine Hoffnung, so weit wie das Meer, und die Begeisterung trug sie auf Adlerfittichen, und das Herz schwoll ihnen in tausendfältigem Mut.

Freilich, das Leben verwischte späterhin vieles davon, die Weltklugheit tat ihm weiteren Abbruch, und die Feigheit ertötete den Rest; aber was tat das? Die Zeit, die im Dienste des Guten verlebt ist, kann keine schlechten Früchte tragen, und nichts in dem Leben, das später gelebt wird, kann auch nur einen Tag, eine Stunde von dem Leben auslöschen, das gelebt worden ist.

Für Niels erhielt die Welt in jenen Tagen ein ganz verändertes Aussehen. Seine geheimnisvollsten, verschämtesten Gedanken hörte er jetzt von einem Chor der verschiedenartigsten Personen klar und deutlich aussprechen; seine eigentümlichen Anschauungen lagen nicht mehr wie eine neblige Landschaft vor ihm, er sah diese Landschaft jetzt ohne Schleier in grellen, harten, tageshellen Farben bis in die geringsten Einzelheiten bloßgelegt, von zahllosen Wegen durchschnitten, und eine wimmelnde Volksmenge auf diesen Wegen – das Phantastische war handgreiflich geworden!

Er war nicht länger ein einsamer Märchenkönig, der über Länder herrschte, die er nur im Traum erschaffen hatte, nein, er war einer in der Schar, ein Mann in der Schar, ein Soldat im Solde der Idee, im Solde des Neuen. Da war ein Schwert für seine Hand, eine Fahne, der er folgen konnte.

Niels Lyhnes Verwandte in Kopenhagen, und besonders der alte Etatsrat, waren gar nicht zufrieden mit dem Umgange, den der junge Student sich erwählt hatte. Es waren nicht so sehr die neuen Ideen, die ihnen Kummer bereiteten, als die Tatsache, daß einzelne von den jungen Menschen der Ansicht waren, daß langes Haar, hohe Jagdstiefel und ein leichter Anstrich von Unsauberkeit den neuen Ideen zum Vorteil gereichten, und obwohl Niels selber in dieser Hinsicht nicht fanatisch war, berührte es sie doch unangenehm, wenn sie ihm, und noch weit unangenehmer, wenn ihre Bekannten ihm in der Gesellschaft von Jünglingen dieses Schlages begegneten. Aber das war doch im Grunde noch nichts gegenüber der Tatsache, daß er soviel in Frau Boyes Hause verkehrte und mit ihr und ihrer blassen Nichte ins Theater ging.

Mit Bestimmtheit konnte man Frau Boye freilich nichts Übles nachsagen. Aber man sprach über sie. Und zwar auf mancherlei Art. Sie war aus guter Familie, eine geborene Konnerog, und die Konnerogs gehörten zu den ältesten und vornehmsten Patrizierfamilien der Stadt. Aber sie hatte mit ihnen gebrochen. Einige behaupteten, die Veranlassung dazu sei ihr leichtsinniger Bruder gewesen, den man nach den Kolonien geschickt hatte. Das jedoch stand fest, der Bruch war ein vollständiger, und man erzählte sich sogar, daß der alte Konnerog sie verflucht und dann einen Anfall seines bösen Frühlingsasthmas bekommen habe.

Dies alles hatte sich zugetragen, nachdem sie Witwe geworden war.

Ihr Mann war Apotheker gewesen, Assessor pharmaciae und Ritter des Danebrog. Als er starb, war er sechzig Jahre alt und Besitzer von anderthalb Tonnen Goldes. Soviel man wußte, hatten sie sehr gut miteinander gelebt. Im Anfang der Ehe, während der ersten drei Jahre, war der alternde Mann sehr verliebt gewesen, später lebte jedes mehr für sich: er widmete sich eifrig seinem Garten und seinem Herrenklub, in welchem er zu glänzen suchte; sie war mit Theater, Romanzenmusik und deutscher Poesie beschäftigt. Dann starb er.

Als das Trauerjahr um war, machte die Witwe eine Reise nach Italien, und lebte mehrere Jahre im Süden, hauptsächlich in Rom. Es war nichts an dem Gerücht, daß sie im französischen Klub Opium geraucht habe, und daß sie sich wie Paulina Borghese habe modellieren lassen; auch hatte der kleine russische Fürst, der sich während ihres Aufenthaltes in Neapel erschoß, sich keineswegs um ihretwillen erschossen. Es beruhte dagegen auf Wahrheit, daß die deutschen Künstler unermüdlich waren, ihr Serenaden zu bringen, und auch das beruhte auf Wahrheit, daß sie sich eines Morgens in Albaneser Bauerntracht auf eine Kirchentreppe in der Via Sistina gesetzt und sich von einem eben angekommenen Künstler hatte bestimmen lassen, ihm Modell zu stehen mit einem Krug auf dem Kopfe und einem kleinen braunen Knaben an der Hand. Jedenfalls hing ein solches Bild in ihrem Zimmer.

Auf der Heimreise von Italien traf sie mit einem Landsmanne zusammen, einem bekannten, tüchtigen Kritiker, der gern Dichter gewesen wäre. Eine skeptische, verneinende Natur nannte man ihn, einen scharfen Kopf, der seine Mitmenschen hart und unbarmherzig angriff, weil er gegen sich selber hart und unbarmherzig war und seine Brutalität dadurch gerechtfertigt glaubte.